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Kann man die Arbeiterklasse mit einer Instantsuppe von der Revolution abhalten? Hinter der Ära der Convenience-Produkte steht mehr als nur Bequemlichkeit.

von Daniel Di Falco
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Zeit zum Kochen hatten sie schon früher keine. «Woher», fragte 1882 der eidgenössische Fabrikinspektor Fridolin Schuler in seinem Vortrag über die «Ernährung der Fabrikbevölkerung und ihre Mängel» – woher also «die Zeit zum langen Kochen nehmen, wo Zeit Geld ist?» Die «heutige Frauenwelt», so Schuler, habe es «zum Teil verlernt, eine schmackhafte Suppe zu kochen».

Der Mann aber hatte einen Plan gegen das Problem der Mangelernährung in den Unterschichten: Hülsenfrüchte. Sie sollten den Arbeitern die fehlenden Proteine liefern. Und so machte er sich mit dem Unternehmer Julius Maggi, der seit 1869 im zürcherischen Kemptthal eine Mühle betrieb, an die Entwicklung der «Leguminosenmehle»: Pulver aus getrockneten und gemahlenen Linsen, Bohnen, Erbsen, die sich im Handumdrehen in eine Art Suppe verwandeln lassen sollten. Wasser dazu, aufkochen, umrühren, voilà: Convenience Food.

Auch wenn man sich die allererste Sofortsuppe eher wie einen Brei vorstellen muss: Sie ist exemplarisch für die Geburt einer Industrie, die unser Leben heute selbstverständlich prägt. Und dafür, wie das moderne Leben umgekehrt diese Industrie erst nötig machte. Noch um 1850 versorgte sich die Mehrheit der Bevölkerung aus dem eigenen Garten, doch dann zogen immer mehr Menschen in die Städte, arbeiteten in den Fabriken und mussten sich ihr Essen kaufen. Der Inspektor hatte Recht: Wer täglich vierzehn Stunden an der Maschine stand, wie das in den Anfängen der industriellen Ära üblich war, der hatte tatsächlich kaum noch Zeit zum Kochen. Die Löhne waren ohnehin so tief, dass sie kaum zum Überleben reichten.

So brachte die Industrialisierung eine neue Lebensform hervor – und lieferte zugleich die Lebensmittel, die zu diesem modernen Alltag passten. 1883 präsentierte Maggi seine «Leguminosenmehle» in neun Geschmacksrichtungen; ein Jahr später begann er mit dem Vertrieb, und zwar unter dem Patronat der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, einer Organisation bürgerlicher Sozialreformer. Sie wollten den politischen Zündstoff entschärfen, der in der wachsenden Not der Fabrikbevölkerung lag.

Während die Arbeiterbewegung auf den Klassenkampf und den Umsturz der herrschenden Ordnung setzte, veranstalteten die Philanthropen Koch- und Haushaltskurse für die Arbeiterfrauen, klärten das Volk über gesunde Ernährung auf – und machten Reklame für den Suppenbrei aus Kemptthal. Ihr wollt mehr Lohn? Von Maggi gibts was Besseres.

Tatsächlich wusste der Unternehmer eines nur zu gut: ohne Marketing keine Massenproduktion. Er war, genau wie Henri Nestlé und Carl Heinrich Knorr, nicht nur ein Pionier der industriellen Ernährung, sondern auch der modernen Markenbildung. 1886 stellte er als Reklametexter einen jungen Deutschen an, der sich später einen Namen als Dichter und Bürgerschreck machen sollte: Frank Wedekind («Lulu», «Frühlings Erwachen»). 1886 trat er in Kemptthal ein und schusterte acht Monate lang Werbeverse: «Wo sich Mann und Weib verbindet / Keimen Glück und Seligkeit / Alles Wohl beruht auf Paarung / Wo dem Leben Poesie / Fehle Maggis Suppen-Nahrung / Maggis Speise-Würze nie!» Oder, vielleicht ein bisschen griffiger: «Das wissen selbst die Kinderlein: Mit Würze wird die Suppe fein. Drum holt Gretchen munter die Maggi-Flasch‘ herunter.»

Was das Suppenpulver aus den Hülsenfrüchten betrifft: Julius Maggi selber soll von seiner Erfindung so begeistert gewesen sein, dass er seine Tochter nach ihr taufen wollte – Leguminosa. Wirklich kolossal erfolgreich wurde aber ein anderes von Maggis Fabrikaten: seine braune Speisewürze in der Flasche. Die kam auch bei Elisabeth Fülscher an, die sie in der Nachkriegszeit gleichermassen routiniert wie unbekümmert benutzte (und bewarb) – genau wie die Bouillonwürfel aus dem Hause Maggi und das fast so bekannte Fleischextrakt von Liebig. Alle waren ihr eine «grosse Hilfe in der Küche», und das mindestens zum Würzen ihrer vielen Suppen (die Fülscher nach wie vor für eine «gesunde und ökonomische Grundlage» der Ernährung hielt, trotz jener «neuzeitlichen Einstellung zur Ernährung, die nahelegt, Mahlzeiten möglichst oft mit einer Salatplatte oder mit rohem Gemüse- oder Fruchtsaft zu beginnen»).

Das ominöse Leguminosenmehl dagegen – es erreichte jene Leute nie, für die man es erfunden hatte. Zu abstrakt, zu technisch war es den Arbeitern, die zwar Pioniere einer neuen Lebensweise waren, aber ihre alten Essgewohnheiten zunächst weiterpflegten. Nicht zuletzt war es schlicht zu teuer, und so ging es der allerersten Sofortsuppe wie vielen anderen Convenience-Kreationen der Lebensmittelindustrie: Zuerst kamen sie bei den Reichen auf den Tisch. Zeit sparen – auch das musste man sich erst einmal leisten können.
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