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Gefüllte Kohlblätter sind leise stetig Reisende. Sie scheuen sich nicht vor der Weite des Horizonts, vor unbekannten Gegenden. Schon in Byzanz wurden sie geformt und gerollt, und bis heute findet man sie auf europäischen und nahöstlichen Tischen. Das Kreuzblütengewächs umwickelt dabei verschiedene Zutaten und wird gekocht, gratiniert, gegart und manchmal gebraten. Über die Jahrhunderte hinweg sind die gerollten Blätter in verschiedensten Kulturen zu einer typischen Alltagskost geworden. Die Besonderheit findet sich aber vor allem im erdigen Charakter der Speise. Dieser führt dann auch dazu, dass uns dieses Gericht beim Essen gerade so viel Glück beschert, wie es zum Glücklich-Sein braucht.

von Valerie Katharina-Meyer*

 

Die gefüllten Kohlblätter sind aufgrund ihrer weiten geographischen Ausbreitung äusserst vielnamig: Sarma oder Dolma, Kohlrouladen, Kohlwickel sowie Kohlrollen sind nur eine spontane Auswahl eines Sammelsuriums von Bezeichnungen für dieses Gericht, das bei uns häufig im Herbst oder Winter gekocht wird, in seiner Farbe oftmals frühlingshaft erscheint und in einigen Ländern auch an warmen Sommertagen auf den Tisch kommt. Elisabeth Fülscher spricht nicht nur von Kohlrouladen, sondern auch von Kohlköpfchen, und es ist, als spreche sie dieser Wickelspeise damit einen Charakter zu; als hätte jede einzelne Kohlrolle ihr eigenes Wesen. Bei der Zubereitung des Gerichts zeigt sich auch, dass die Annahme einer solchen Wesenhaftigkeit unserer Kohlrollen keineswegs aus der Luft gegriffen zu sein scheint. Denn bei den gerollten grünen, weissen und vielleicht gar violetten Blättern zeigt sich besonders schnell, wie viel zeitlicher Aufwand, aber auch wie viel Sorgfalt bei der Zubereitung aufgewendet wurden. So mussten in Griechenland, vielleicht auch in weiteren Balkanländern, noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die jungen Frauen ihren zukünftigen Ehemännern und Schwiegereltern nicht nur geschmacklich überzeugenden Kaffee servieren, sondern oftmals wurde versucht, die Geschicklichkeit und die Sorgfalt der zukünftigen Ehefrau anhand der von ihr zubereiteten gerollten Speisen zu erkennen. Weinblätter gefüllt mit Reis, oder auch in Kohlblättern verstecktes Fleisch bestimmten also nicht nur die Zukunft der jungen Frauen mit, sondern sie schienen auch stellvertretend für bestimmte Wesenszüge der Frauen zu stehen.

Hier soll aber weder auf das Vermögen der Kohlrolle als eine diskrete Spurensuche über Köchinnen und Köche, noch auf die Eignung des Gerichts als Heiratsvorbereitung eingegangen werden. Vielmehr soll das Wesen der Kohlrolle aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet werden, bei der uns erneut Elisabeth Fülschers Namensgebung Kohlköpfchen weiterhilft. Denn besonders bei dem Kohlköpfchen tritt eine Eigenart des Gerichts in den Vordergrund, die bei allen Kohlwickel-Gerichten prägend erscheint: Wollte man eine menschliche Eigenart einem Gericht zuschreiben, so könnte man das Kohlköpfchen als kosmopolitisch bezeichnen. Denn das gefüllte Kohlblatt ist ein Kosmopolit.

Das kosmopolitische Wesen der Kohlrollen ist jedoch nicht unbedingt in einem Zusammenhang mit der weiten Verbreitung des Gerichts zu sehen. Betrachtet man die verschiedenen Küchen von Nordeuropa bis hin zu jenen der arabischen Kulturen, fällt auf, dass sich die Kohlrollen in den jeweiligen Kochkulturen so eingelebt haben, dass jede einzelne Kultur die Speise vollkommen als ihrer jeweiligen Kultur und Tradition zugehörig betrachtet. Anders als die Röschti, die – wo immer auf der Welt – als schweizerisches Exportgut verstanden werden will, oder als die Spaghetti, in denen stets eine Prise Italien mitschwingt, ist der Kohlwickel immer dort zuhause, wo er jeweils zubereitet wird. Für die Kohlrolle gibt es keine fremde Erde. Alles ist Heimat. Wo immer sie gegessen wird, wird mit ihr jener Geruch wahrgenommen, in dem die Heimat duftet. Die Identität der Kohlwickel gründet auf keinem bestimmten nationalen Konzept, sondern ihr Wesen verweist vielmehr auf eine Tradition, die über einzelne Kulturen hinausgeht. Sie missachtet die von uns gezogenen Grenzziehungen. Und da jede Küche ihre Heimat sein kann, macht sie uns darauf aufmerksam, dass die meisten Grenzlinien überwindbar sind. Die Kohlroulade wird so zu einem Exemplum, dass Heimat überall auch werden kann.

Der erdige Charakter der Kohlrollen ist sodann auch weniger von ihrer Zubereitung bedingt. Da dieses Gericht in allen Küchen seine Heimat hat, gibt es auch uns, wo immer wir es essen, irgendwo und überall das Gefühl von heimischer Erde, den herben Geruch unseres Glückgefühls. Mit seinem alltäglichen, manchmal gar währschaftlichen Charakter weist das Kohlköpfchen aber gleichzeitig über den alltäglichen Horizont hinaus und zeigt, verpackt mit seiner eingerollten Form, was uns alle – ob Kosmopolit oder nicht – verbindet: unsere Sehnsucht nach Geborgenheit.

* Valerie-Katharina Meyer (1988) studierte an der Universität Zürich Germanistik und Geschichte, arbeitet als Texterin und schreibt für verschiedene literarische und kulturelle Zeitschriften. Am liebsten aber kocht sie sich durch den Alltag und spielt mit Wörtern.