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Ein Vierteljahrhundert lang habe ich keinen Krautstiel an meinen Körper heran gelassen – doch dann kam der Tag.

von Samuel Herzog*

 

Ich hasse Krautstiel – und das war immer schon so. Auch unter dem schönen Namen Mangold treibt er in mir die übelsten Gedanken hoch – nur schon die Farbe seines Stiels ist Grund genug, die Finger davon zu lassen. Als Caravaggio 1603 seine «Grablegung» schuf, wählte er für die totesten Stellen am Heiland ganz genau das vor lauter Helligkeit ganz körperlose und dabei trotzdem grünlich-gräuliche Weiss des Krautstiels – und räumte so jeden Zweifel an der völligen Leblosigkeit dieses Leibes aus. Ja vielleicht wählte er die Krautstielfarbe gar, um anzudeuten, dass er im Grunde nicht an die Auferstehung glaubte. Dass es in jüngster Zeit auf dem Markt immer öfter auch Mangold mit goldenen und roten Stielen gibt, ändert an dem grossen Grauen nichts – ist diese Buntheit doch schiere Augenwischerei, denn in Wahrheit ist aller Krautstiel totenfahl.Als Kind ass ich prinzipiell alles und von allem viel – was meine Eltern durchaus mit einer gewissen Sorge erfüllte, zum Beispiel, als ich, und das lange vor meiner Pubertät, in einem französischen Landgasthof unbedingt eine zweite Andouillette bestellen wollte. Mein jüngerer Bruder war das schiere Gegenteil von mir – die Liste der Dinge, die er nicht essen mochte, war so lang, dass nicht einmal er selbst den Überblick hatte. Eine besonders heftige Abneigung hegte er gegen Gemüse, zuvorderst gegen Spinat. Auch das machte meinen Eltern Kummer, und also versuchten sie, ihn doch wenigstens zu einem minimalen Vitamin-Konsum zu bringen. Eines Tages beeindruckte er mich beim Mittagstisch mit einer Tat, die der wundersamen Vermehrung der Brote und Fische eigentlich in nichts nachstand: Von Mutter gezwungen, wenigstens eine kleine Gabel voll Spinat zu essen, erbrach er sicher einen Liter leuchtend grüne Pampe auf seinen Teller.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie verstanden, warum man eine Abneigung gegen irgendwelche Speisen hegen konnte. In diesem Moment aber begriff ich, dass es dabei gar nicht um Geschmäcker, Farben oder Konsistenzen ging, sondern einzig und allein darum, selbst über sein Leben bestimmen, selbst den Raum seines Körpers gestalten zu können. – Auf einen Schlag wurde mir bewusst, was für ein immenses Defizit ich hatte – ich, der ich alles ass, fühlte mich plötzlich als Wesen ohne eigenen Willen, als Kind ohne Eigenschaften, als charakterloser Lappen.

Das war die Stunde des Krautstiels. Warum es ausgerechnet ihn traf, kann ich heute kaum noch rekonstruieren – gut möglich, dass ich schon zuvor eine gewisse Abneigung gegen dieses Gemüse gehegt hatte. Von diesem Moment an aber weigerte ich mich, Krautstiel in jedweder Form an meinen Leib heranzulassen – mit Erfolg. Wenn ich später irgendwo eingeladen war, dann verkündete ich jeweils nicht ohne einen gewissen Stolz: «Ich esse alles – ausser Krautstiel.» Auch auf die gelegentlich gestellte Frage, warum ich denn ausgerechnet dieses Grünzeug nicht ässe, gab ich stets die gleiche, hochdifferenzierte Antwort: «Ich hasse es!» Die Formel, die hinter meinem feurigen Anti-Krautstielismus steckte, hätte etwa lauten können: «Ich esse das nicht – also bin ich.»

Mehr als ein Vierteljahrhundert verging ohne jede Berührung mit Mangold. Dann allerdings unterschrieb ich eines Tages einen verhängnisvollen Vertrag – mit einem Bio-Bauernhof, der mich wöchentlich mit Saisongemüse zu beliefern versprach. Es war ein Pakt mit dem Teufel – denn das Gemüse-Abo bestand, wie sich bald herausstellte, fast ausschliesslich aus Spinat und Krautstiel. Erst wurde ich bleich, dann versuchte ich mit exorzistischen Flüchen den verhassten Stengel wieder aus meinem Leben zu treiben – es half alles nichts. Einige Male konnte ich das Gemüse noch erfolgreich an Nachbarn oder Freunde verschenken, doch irgendwann kam der Tag.

Der erste Bissen war so fürchterlich, dass es mich an Stellen in meinem Körper würgte, von deren Existenz ich bis dahin nicht gewusst hatte. Der zweite war nicht besser und der dritte – nun, zu meinem horrenden Schrecken lag mir das Gemüse plötzlich wie ein zarter, lieblich duftender Grünkörper im Mund, aromatisch eine Mischung aus Spinat, Karotten und Roter Bete, mit einer markanten Erdnote, etwas bitter und süss zugleich, je nachdem auch angenehm säuerlich. Hätte ich mich auf meinen Küchentisch übergeben müssen, um meine Eigenständigkeit zu retten? Ich tat es nicht, ich war zu schwach. Im Gegenteil – bei nächster Gelegenheit stopfte ich mir etwas rohen Krautstiel in den Mund, was man wohl aus Rücksicht auf seine Nierensteine nicht tun sollte (wegen der sogenannten Oxalsäure, die dem Gaumen ja auch den rohen Krautstiel verdirbt). Das krautige, bittere und erdschwere Aroma kam mir so tief und so vielschichtig vor, dass es mich unvermittelt an einen sehr alten Blauburgunder erinnerte – und es wirkte im Mund nach, veränderte sich auf dem Zahnfleisch, nahm alle möglichen aromatischen Gestalten an, war exotisch-fruchtig, dann rübenartig, fleischig-blutig, ausgedörrte Sumpflandschaft, Kiefernwald, Düne. Wäre da nicht plötzlich dieser heftige, pelzige, den Mund austrocknende Nachklang gewesen, diese kratzige Übersäuerung des Rachenraums und der Speiseröhre, unsere Nierensteine hätten jubiliert.

Seither aber weiss ich, dass der Krautstiel ein zutiefst böses, ein abgrundtief schlechtes Gemüse ist. Deshalb rücke ich ihm bei jeder Gelegenheit mit meinem längsten Küchenmesser auf den Leib. Ich schneide ihm das fahle Rückgrat aus dem grünen Körper, rolle seine Blätter, bis ich höre, wie die Rippen zerbersten, zerlege ihn, lasse ihn in Fett oder im Ofen schwitzen und erwürge ihn schliesslich mit Öl, mit Zitrone, mit weisser Sauce.

Solches braucht nicht an der grössten Glocke zu baumeln – die wahren Rächer im Dienste der Menschheit haben immer schon verdeckt operiert. Wenn ich irgendwo zum Dinner eingeladen bin, habe ich deshalb jetzt eine neue Formel bereit: «Ich esse alles, ausser grossen Schafsaugen» – in der stillen Hoffnung, dass sich niemand von meinen Worten abschrecken lässt.

Dieser Text erschien erstmals am Samstag, 30. Mai 2014 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 55.