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Bis ins 19. Jahrhundert hinein gab es ausschliesslich grünen Spargel. Heute aber ist es in Europa vor allem der weisse Spargel, der die Herzen im Frühling höher schlagen lässt.

von Samuel Herzog*

 

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Der weisse Spargel ist ein armes Schwein, das sich tagelang durch die dunkle Erde wühlt – und wenn die Frühlingsgefühle bei ihm den Höhepunkt erreichen, wenn die grosse Befreiung unmittelbar bevorsteht, dann fährt ihm ein Messer an den Kragen, und ehe er sich versieht, landet er gebündelt in der Kiste, wenig später auf dem Markt, dann wird ihm die Haut vom Leib gezogen, kochendes Wasser, Mayonnaise – und schon wieder ist es dunkel um ihn her. Je schneller das geschieht, desto besser, denn weisser Spargel sollte im kulinarisch idealen Fall am Tag seiner Geburt diese Welt auch wieder verlassen.

Ob der Spargel ahnt, dass es eine falsche Dunkelheit ist, in der er seine höchsten Erwartungen nährt, ein vom Menschen künstlich aufgeworfener Damm, der die Stangen vor dem Licht schützt? Den schönsten Exemplaren scheint die Sonnenahnung in den perlenbleichen Leib gefahren: ein zartes Violett, Magenta oder Cyan an der Spitze, das sich in feinsten Tröpfchen von Lila, Rosa oder Bordeaux weit den Schaft hinab versprüht – als habe der Spargel die Morgenröte, vor der ihn die Tricks der Menschen beschirmen, aus seinem tiefsten Sehnen heraus selber produziert.

Auch das Aroma der in gekochtem Zustand gleichermassen glitschigen wie saftigen Stangen verrät, dass hier etwas künstlich im ungeschlüpften Zustand gehalten wurde. Wir haben ein feuchtes Fell im Mund, an dem noch etwas trockene Erde klebt, dem bitteren Grundton stemmt sich eine körperliche Süsse entgegen. Schwefel erinnert an die Höhle, in der das Wesen die Welt erwartete. Auch ein Hauch von Brot ist da, eine feuergeschwärzte Kruste, nicht mehr ganz frisch. An der Spitze ist das Aroma fast käsig intensiv, zum Ende hin nimmt es merklich ab – auch darin zeigt sich die Konzentration auf den Ausbruch, die Vorbereitung des Wechsels von einem Element in das andere, die Hoffnung auf einen Schuss in Richtung Weltall.

Im Vergleich zu seinem anämischen Bruder hat es der grüne Spargel gut, der ohne Kaiserschnitt auf die Erde kommt, einmal richtig durchatmen kann, sich von der Sonne umschmeicheln lässt – und erst geerntet wird, wenn er sich tüchtig gestreckt und eine smaragd- oder salatgrüne Farbe angenommen hat. Kein Wunder, ist das Aroma des grünen Spargels mehr von dieser Welt, aufrichtiger, gemüsiger, nussiger und würziger als das nahezu tierische, wie aus einer anderen Dimension stammende Bukett seines blinden Bruders.

Bis ins 19. Jahrhundert hinein gab es ausschliesslich grünen Spargel. Heute aber ist es in Europa vor allem der weisse Spargel, der die Herzen im Frühling höher schlagen lässt – ja der Bleichspargel hat sich so sehr durchgesetzt, dass man mitunter hört, der grüne Spargel sei eine Mode aus Amerika. Grüner wie weisser Spargel haben die rechte Raketenform, die etwa die Comedian Harmonists um 1930 schelmisch singen liess: «Die ganze Welt ist wie verhext, Veronika, der Spargel wächst.» Trotzdem ist es vor allem der weisse Spargel, der die Phantasien in Gang bringt. Liegt es daran, dass er mit seiner geraden und kompakten Spitze die perfektere Penetrationsform hat? Stachelt uns seine an bleiche Haut erinnernde Farbe an? Oder aber ist es sein überirdisches und zugleich doch verborgenes Wachstum, das unsere Vorstellungskraft kitzelt – wie eine heimliche Phantasie, ein versteckter Wunsch, eine vor den Augen der Welt verborgene Schwellung in der Erdhose?

Grüner wie weisser Spargel sind geeignet, uns aromatisch so vollständig zu penetrieren, dass selbst unsere Ausscheidungen davon betroffen sind. Nach einem Abend, an dem wir tüchtig Spargel gegessen haben, überrascht uns der starke Duft beim Lösen des nächtlichen Drucks. Oft kommt es uns zunächst vor, als müsse da Hexerei am Werk gewesen sein – bis uns der Spargel wieder einfällt. Den einen ist der eigenwillige Metabolismus ein wahrer Greuel: «Spargeln bewirken, wie jedermann weiss, einen schmutzigen und unangenehmen Geruch im Urin», schreibt Louis Lemery 1702 in seinem «Treatise of All Sorts of Foods» (S. 103). Andere können sich wie Marcel Proust in «Du côté de chez Swann» die ganze Nacht daran freuen, dass eine eigenwillige «farce poétique et grossière comme une féerie de Shakespeare» ihren «pot de chambre» in eine «vase de parfum» verwandelt hat.

 

Dieser Text erschien erstmals am Samstag, 26. April 2014 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 47.