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Was für eine Frucht am Baum der Erkenntnis gehangen hat, verrät uns die Bibel nicht. Aber kann es denn eine andere Frucht gewesen sein als der Apfel?

von Samuel Herzog*

 


Ist Malus domestica nicht die Superfrucht schlechthin, die Frucht aller Früchte? Gibt es eine Bananologie? Eine Salatologie? Nein – die Pomologie aber, in deren Zentrum klar der Apfel steht, ist eine Wissenschaft geradeso wie die Theologie. Hier der Logos vom Guten Apfel – da die Lehre vom Lieben Gott.

Beide Fächer kannten wohl bessere Zeiten. Dass einem in unseren Tagen ein Pomologe vorgestellt wird, kommt tatsächlich nur noch selten vor. Dies hat zweifellos damit zu tun, dass heute ein paar wenige Sorten den Markt beherrschen und es folglich eher Apfel-Techniker braucht denn Apfel-Wissenschafter. Blickt man jedoch ins 18. und 19. Jahrhundert zurück so waren die Jünger der römischen Obstgöttin Pomona mit grossem Eifer dabei, den Kosmos der zahllosen Apfelsorten zu vermessen – die Bücher, die dabei entstanden, gehören mit ihren handkolorierten Tafeln und farbigen Lithografien zum Schönsten, was man in Antiquariaten finden kann. Immerhin sind auch in jüngster Zeit einzelne Werke zum Thema aufgelegt worden. Dies wiederum verdankt sich der Tatsache, dass das Interesse an alten Sorten (aber auch neuen Züchtungen) seit einigen Jahren ständig zunimmt – denn man hat gemerkt, wie viel mehr so ein Apfel sein kann als nur ein farbig verschaltes Gala-Wasser, das in einer Glasschale auf der Empfangstheke eines Hotels steht.

Viele der alten Apfelsorten, deren Namen wie Klänge aus einer anderen Zeit zu uns hinüberwehen, haben deutlich mehr Charakter als die meisten der heutigen Industrieäpfel. Sie heissen Ananas-Renette, Berlepsch, Eierlederapfel, James Grieve, Königlicher Kurzstiel, Patte de Loup, Weisser Winterkalvill usw. – und wenn man die Zähne in ihr Fleisch schlägt, dann spritzt mit dem süsslichen oder säuerlichen Saft auch ein Aroma gegen unseren Gaumen, das nach Anis, Rose oder Muskat, nach Himbeere, Banane, Orange oder Mango, nach Hefeteig, Milch, Mandel, Gras oder Haut riecht. Dabei kann das Erlebnis selbst eines einzigen Apfels sehr abwechslungsreich sein, denn er schmeckt auf seiner der Sonne zugekehrten Wange etwas süsser als auf der Schattenseite, hat in den äusseren Schichten ein anderes Parfum als nahe dem Kerngehäuse – und wer auch dieses nicht verschmäht, wird hier nochmals einem neuen Aroma begegnen. So ist es ein wenig, als erzähle uns der Apfel aus der Geschichte seines Lebens – von der Biene, die ihn zeugte, von der Wärme der Sonne, vom Regen auf seiner Haut, von den vorüberziehenden Wolken, von der Bewegung im Wind, von seiner Sehnsucht nach der blassen Rundgestalt des Mondes und schliesslich von der Hand, die ihn pflückte. Das Erlebnis eines Apfels hat viel mit dem Erlebnis von Wein gemein – dazu passt auch, dass ihm eine weinartige Säure eigen ist und dass er mit der Lagerung reift und oft besser wird, bevor er allen Reiz verliert.

Es gibt kaum ein anderes Lebensmittel, das auf eine so lange Geschichte zurückblicken kann – die Ursprünge des Apfels liegen im Thien-Shan-Gebirge zwischen China und Kasachstan, doch fand er schon in prähistorischer Zeit den Weg bis nach Europa. Den Alten war der Apfel vor allem auch ein Heilmittel. Schon die Babylonier, die Griechen und die Römer wussten, wie viel Bonus im Malus steckt – und Hildegard von Bingen empfiehlt, ganz gemäss der Säftelehre, rohe Äpfel für gesunde Menschen, gekochte oder schrumpelige Früchte aber für Kranke. Um 1900 war eine Apfelkur populär, die den Verzehr von dreissig rohen Sämlingen pro Tag vorschrieb – und wohl eher den Namen Pferdekur verdient hätte. Die Bedeutung des Apfels als Heilmittel ist heute vielleicht ein wenig in den Hintergrund getreten, wirkt indes noch in dem populären Spruch nach: «An apple a day keeps the doctor away.»

Auch wenn sich der Doktor mit Äpfeln allein leider nicht verlässlich auf Distanz halten lässt, stellt der Biss in diese Frucht doch unter Umständen so etwas wie eine Demonstration dar, dass der Beisser sich gesund fühlt, dass alles in Ordnung ist (mit dem Zahnfleisch zumindest). Ja der Verzehr eines Apfels kann mitunter geradezu etwas Überhebliches oder auch Aggressives haben, vor allem wenn er etwas hastig geschieht: ein Krachen, auf das die nervösen Schmatzgeräusche der Vermostung im Mund folgen. Die Hand dreht den verletzten Fruchtplaneten, das Auge kreist wie ein Raubvogel über dessen Oberfläche, bestimmt Stelle und Art der nächsten Attacke: Zellen zerbersten, leichte Erstickungsgeräusche, weil das Stück doch wieder etwas zu gross war, grunzendes Einatmen durch die Nase, glucksend schiesst der Saft in die Backen. Wenn ich mich nur ein wenig labil fühle, dann vermeide ich die Gegenwart von Menschen, die Äpfel essen.

Vielleicht haben solche Empfindlichkeiten ihren Grund aber auch nur darin, dass der Apfel ein Symbol für so vieles ist und war: Liebe, Sexualität und Fruchtbarkeit (Ischtar, Aphrodite, Canticum Canticorum), Leben (Luthers Apfelbäumchen) und Tod (Schneewittchen), Schönheit (Paris-Urteil), Macht (Reichsapfel), Sünde und Versuchung natürlich, Fleiss (Frau Holle), Streit (Zankapfel der Eris) und Befreiung (Wilhelm Tell). Die weibliche Brust wird gerne als Apfel beschrieben – weshalb man sich fragen kann, was dem armen Adam genau im Hals steckengeblieben ist. Die Osmanen nannten die vier europäischen Metropolen, die sie in ihre Macht bringen wollten, Goldene Äpfel – und wer heute etwas auf sich hält, spaziert mit einem Computer von Apple durch die Welt. Wobei man den angebissenen Apfel als Symbol dafür ansehen könnte, dass man in diesen ungläubigen Zeiten den Versuchungen nicht mehr zu widerstehen braucht (und seien es nur die der Konsumwelt). Dass auch der Name des Rechners von Apple auf eine Apfelsorte zurückgeht, wissen nur wenige – was zweifellos damit zu tun hat, dass der neuenglische Sämling McIntosh ein wenig aus der Mode gekommen ist. Wäre das Computermodell in der Schweiz entwickelt worden, dann wäre der verapplete Teil der Menschheit heute vielleicht auf einem Edelchrüsler oder auf Fraurotacher im World Wide Web unterwegs.
Äpfel werden auch mit Schwüren belegt, wie im Mythos von Kydippe, sie können sich zu einem fliegen Teppich formieren, wie in einem Märchen der Kloi, sie werden verhext und wandeln sich plötzlich zu Kröten oder bringen gar ein Schwein ausser Rand und Band, wie in einer alten Urner Sage. Legenden, in denen der Apfel eine zentrale Rolle spielt, gibt es sonder Zahl – besonders oft tritt der Apfelbaum dabei als Baum des ewigen Lebens auf. So auch in der Sage von den goldenen Äpfeln der Hesperiden, auf die Herakles so scharf war. Die Früchte von dem Bäumchen, das die personifizierte Erde Gaia zur Hochzeit von Hera und Zeus wachsen liess, verliehen den Göttern ewige Jugend.

Der Erfolg des Apfels in der Welt der Sterblichen aber verdankt sich wohl kaum der Hoffnung, dass sein Konsum ewige Jugend fördere – vielmehr dürften neben dem Geschmack und der vielfältigen Verwendbarkeit zwei ganz praktische Gründe ausschlaggebend gewesen sein: Erstens gibt es kaum eine andere Frucht, die sich so einfach und lange lagern lässt, wie der Apfel – dank neueren Kühlmethoden essen wir heute noch im August die letzten Früchte des vorjährigen Herbstes. In Zeiten vor Kühlschrank und Konservendose war der Apfel ein bedeutender Vorrat für die Monate ohne frische Gartenfrüchte. Der zweite Grund für den Erfolg des Apfels ist seine leichte Transportierbarkeit – keine andere Frucht kann man so einfach in die Tasche stecken.

Mit solchen Qualitäten ist der Apfel wahrlich die Frucht aller Früchte – kein Wunder, nannte man früher alles, was man nicht kannte, zunächst einmal Apfel: Der erste Name der Tomate etwa war Malus aurea, und den Erdapfel nennt man ja immer noch so – ganz als müsse es sich bei den Wundern aus der Neuen Welt notgedrungen um Spielformen jener Frucht handeln, welche für viele die Idee selbst von Frucht verkörpert.

Über einen ganz besondern Aspekt des Apfels hat Gordina Poza nachgedacht. Es sei kein Zufall, schreibt sie, dass wir mit dem Apfel die Eigenschaft teilen, erröten zu können: «Um an die süssen Äpfel zu kommen, musste der Mensch sich auf seine Hinterläufe stellen – dabei entdeckte er die Vorzüge des aufrechten Gangs. Es gefiel ihm, durch seinen Garten zu spazieren und mit seinen Händen die Früchte von den Bäumen zu pflücken. Gleichzeitig bemächtigte sich ein neues Gefühl seiner Seele, denn mit der Erhebung waren auch plötzlich die Geschlechtsteile über dem Gras der Wiese sichtbar geworden – also brach der Mensch einen Zweig von einem Strauch und verbarg so sein Geschlecht vor den Augen der anderen. Eine Hand für die Frucht, die andere für den Zweig. Also markiert der Griff nach dem Apfel zugleich den Anfang der Kultur und die Geburt der Scham.» Bleibt die Frage, wer sich zuerst auf die Hinterbeine gestellt hat – Adam oder Eva?


Dieser Text erschien erstmals am Samstag, 11.09.2015 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 61.