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Aus den Tagen wurden Wochen, aus den Wochen ein Monat und aus dem Monat plötzlich Frühling. Das sonnenwarme Licht treibt uns aus den Wänden und macht uns zu Spazierenden in dieser neu leuchtenden Welt. Und wenn man in den zartgrünen Wiesen, vor einer windgeschützten Mauer, neben einem gelben Gewächs oder im irgendwo einer Stadt oder auch in einem Städtchen sitzt, dann ist es die Gelegenheit der Linzer Torte.

von Valérie-Katharina Meyer

Linzertorte

Der Zusammenhang von Linzer Torte und Frühling wirkt auf den ersten Augenblick wohl widersprüchlich. Denn in seinen Brauntönen erinnert das Gebäck mehr an Herbst, und auf die Kombination von Mandel und eingekochter Fruchtsüsse wird oft im Winter zurückgegriffen, wenn keine frischen Früchte für opulente Fruchttorten vorhanden sind. Und doch ergänzt kein anderes Gebäck das menschliche Verhalten in den ersten Frühlingstagen so gut wie die Linzer Torte.

Schon im 19. Jahrhundert legte Erzherzog Franz Karl auf dem Weg in die „Sommerfrische nach Ischl“ immer eine Übernachtung in Linz ein, um von da eine Linzer Torte auf die Reise mitnehmen zu können. So ist es der grosse Vorteil der Linzer Torte, dass sie keine Torte im herkömmlichen Sinne ist, wie man sich eine solche mit Rahm- oder Quarkmousse vorstellt. Vielmehr ist sie mit ihrem nussigen Mürbeteig auch eine optimale Lösung für den Hunger zwischen den Mahlzeiten. Sie ist Süsse für jenen besonderen Augenblick, der im Frühling endlich wieder zu finden ist. So meinte auch schon der Dramatiker Ernst von Wildenbruch: „Was sind aller Dichter Worte gegen eine Linzer Torte!“

 

Mit dieser Eigenschaft, ist diese Torte als nicht nur ein Dessert, sondern auch unsere beste Begleitung durch die Frühlingstage: Man bäckt sie bis sie duftet. Die ausgekühlte Linzer Torte wird dann problemlos geschnitten und verteilt, herumgetragen und verpackt. Kühl gelagert, bleibt das Gebäck viele Tage frisch und kann so spontan auf kleine und grosse Reisen mitgenommen werden. Ihre urtümliche Unkompliziertheit und Unverderblichkeit macht die Linzer Torte auch noch heute zur idealen Begleiterin von Stadtnomaden und Feldwegflaneuren. In der langen Haltbarkeit ohne Kühlschrank zeigt sich auch die Tradition dieses Gebäcks: Denn so stammt das älteste handschriftliche Rezept – entgegen Alfred Polgars literarischer Behauptung, ein Wiener Zuckerbäcker namens Linzer hätte die Torte erfunden – aus dem adligen Veroneser Haushalt der Gräfin Anna Margarita Sagramosa, die schon 1653 das Rezept einer Linzer Torte in ihrem Kochbuch handschriftlich festgehalten hatte.

Die die von Elisabeth Fülscher rezeptierte Linzer Torte ist eine der Möglichkeiten ohne kulinarischen Verlust, das leichte Gefühl des Nomaden-Seins zu leben, das uns von Frühling zu Frühling erneut ergreift und uns zu rastlosen Wanderern und Staunenden über die Wiederkehr einer fast neuen Welt macht. Wenn der Himmel zu blau und der Frühlingstag zu hell für die eigenen vier Wände sind, dann packt man und verbringt den Tag ausserhalb des Hauses, umgeben von der grünenden Erde, unter prallen Blütenknospen.

 

Als Inspiration zu diesem Blog-Artikel durfte ich ein Stückchen Linzer Torte von Elisabeth Fülscher kosten. Es war ein Samstag. Einer der ersten warmen Samstage in diesem Jahr. Ich packte das geschenkte Stück Süsse in meine Tasche und mischte mich unter die vielen Frühlingsnomaden, die sich zu dieser Jahreszeit um den See herum in der jungen Sonne tummeln. Mit einem Kaffee setzte ich mich auf ein Mäuerchen und packte irgendwann auch mein Tortenstück aus. Ich liebe leicht krümeligen Teig, und dieser war genau so wie ich es als ideal erachte: luftig-brösmelig und süss, aber nicht zu zuckrig, nicht zu trocken. Die Nüsse dufteten, und ihr Geschmack gemeinsam mit jenem der Frucht erinnerten an die zeitlose Eleganz vieler Wiener Kaffeehäuser und an Zvieris auf der Strasse vergangener Kindheitstage. Zwischen Kuchengenuss und Träumereien überlegte ich mir, wohin es mich an diesem Tag noch treiben könnte. Das ist die Freiheit des Frühlings: Keine kalten Abende drängen uns in die Räume zurück. Und mit der Linzer Torte begleitet uns die selbstgemachte Süsse von zu hause weg nach draussen. Das Gebäck zügelt dann auch unseren leichten Übermut, indem es mit seinen Himbeeren daran erinnert, dass der Sommer erst noch kommen wird.