Jawohl, Frau Fülscher konnte das noch: lebendige Tiere ins kochende Wasser werfen, Deckel drauf und kein weiteres Wort. Eine Verfechterin der authentischen Küche?
Daniel Di Falco
Der Deckel ist wichtig. Schwer muss er sein, sagt sie: eine «genügend grosse Pfanne, wenn möglich mit einem schweren Deckel» (Rezept Nr. 195). Weil das Tier sonst entweichen könnte? Vielleicht gibt es ja Geschichten von Hummern, denen die Flucht vom Herd gelungen ist. Was es gibt: die Legende vom Schrei des Krustentiers im kochenden Wasser. In Wahrheit entsteht das schrille Pfeifen, weil der Hummer voller Meerwasser ist, das dann unter hohem Druck aus seinem Panzer entweicht. So oder so dient der Deckel womöglich dazu, die Ohren der Köchin zu schonen, damit sie nicht auf schwierige Gedanken kommt: «Den Hummer so halten, dass der Kopf zuerst ins Wasser kommt, den Deckel einen Moment lang festhalten oder beschweren.»
Wie lange dauert ein Moment bei Elisabeth Fülscher? Was den Hummer angeht: Nach 30 bis 45 Sekunden ist er tot. Es ist umstritten, ob er Schmerz empfinden kann. Aber in diesen 30 bis 45 Sekunden funktionieren seine Fluchtreflexe noch, darum kann man ihn mitunter von innen an die Pfanne hämmern hören. Könnte das auch genügen, um einen leichteren Deckel aufzusprengen? Jedenfalls derselbe Hinweis beim Behändigen der Krebse (Nr. 95): acht bis zwölf Exemplare, mittlere Grösse, «diese lebend mit einer kleinen Bürste gründlich waschen, je zwei miteinander ins immer wieder kochende Wasser werfen, dazwischen die Pfanne zudecken».
«Frisch getötet»
Aber Schluss jetzt damit. Die Frau geht mit dem Hummer so selbstverständlich und offenbar auch so ungerührt um, wie man das vor einem halben Jahrhundert eben tat – kein pflichtschuldiges Wort zur Frage nach dem Leiden der Kreatur wie in manchen Hummerrezepten von heute. Andererseits: Es gehen noch ganz andere Dinge in Fülschers Küche vor sich; unheimliche Dinge, die mittlerweile in keinem Kochbuch mehr stehen. «Das Rupfen geschieht am körperwarmen Tier», heisst es grundlagenhalber im Kapitel «Geflügel», und auf das «Abschneiden des Kopfes und der Füsse» sowie das Ausnehmen folgt dann das Absengen von Härchen und Flaumfederchen (Nr. 822).
Bei Fülscher sind Fische vor dem Abschuppen nicht etwa frisch, sondern «frisch getötet». Sie spricht von der «Muskelstarre», die «unmittelbar nach dem Schlachten» der Kälber eintritt, und erklärt, wie man einem Hasen das Fell abzieht (dazu zuerst «an den Hinterläufen an zwei starken Nägeln oder am Fensterknauf aufhängen», Nr. 810).
Und wer «Hirngerichte» mag (sie kennt ein ganzes Dutzend), dem vermittelt sie auch die Handhabe des Hirns: Es wird in lauwarmes Wasser gelegt und gehäutet, «indem man mit den Fingern sorgfältig zwischen den Furchen durchgeht und so die Haut abzieht» (Nr. 748).
Man muss nicht alles selber machen
Und heute? Heute liegt unter dem Plätzli ein Vlies in der Packung und bewahrt den Konsumenten vor dem letzten Risiko, Blut sehen zu müssen. Auch der kleinste Rest Borste am Fleisch sorgt jäh für Ekel, weil er daran erinnert, woher das Essen eigentlich kommt. Was da auf dem Teller liegt, ist tatsächlich das Ergebnis eines Abstraktionsmanövers, einer enormen Ausblendungsübung. Und zugleich einer zunehmenden Auslagerung von Arbeit: Was bei Fülscher noch am Küchentisch erledigt wurde, ist mittlerweile als bezahlte Vorleistung im Produkt inbegriffen. Ein epochaler Trend, den man in diesen Tagen «convenience» kennt.
Also zurück zur Natur und das nächste Poulet selbst rupfen, möglichst «körperwarm»? Nicht mit Frau Fülscher. Selbermachen ist bei ihr kein Ding der Authentizität, keine Demonstration einer Haltung, ja nicht einmal eine Qualitätsfrage. Geflügel bevorzugt sie «sauber gerupft und pfannenfertig geliefert»; auf die «Zeit- und Arbeitsersparnis» kommt es ihr an. Und auch das Abbalgen erklärt sie nur «der Vollständigkeit halber»: falls der Hase ausnahmsweise nicht vom Metzger kommt, sondern direkt vom Jäger.
Gern aus der Dose
Was den Hummer angeht: Der steht noch immer auf dem Herd. «Teuer, aber delikat», weiss unsere Kochlehrerin, und man könnte die These riskieren, dass der Hummer diesen Rang womöglich nur hält, weil sich der Esser am Tisch sein Hämmern unter dem Deckel nicht anhören muss. Jetzt also «herausnehmen, abtupfen, dann mit wenig Öl bepinseln», denn «durch den Glanz wirkt der Hummer schöner rot». Die Frage, warum er beim Kochen seine Farbe ändert, von Schwarz, dunklem Braun oder Blau zu leuchtendem Rot – sie ist wohl das einzig Unstrittige in dieser Affäre: Die roten Pigmente sind in Proteine eingeschlossen; die fallen durch die Hitze auseinander und setzen die Pigmente frei. Das ist Chemie oder Physik und ethisch ganz und gar unkompliziert.
Für Elisabeth Fülscher erst recht. Wer es gern einfach hat, dem empfiehlt sie für kalte Vorspeisen «Hummer aus Büchsen» (Nr. 113 und 140). Wobei eben auch die nichts Ehrenrühriges haben: «Konserven sind praktisch und erleichtern die Arbeit.»
Daniel Di Falco (1971) ist Historiker und Journalist. Forschungen zur Kulturgeschichte des Konsums und der Ernährung; beim «Bund» in Bern schreibt er über gesellschaftliche Fragen, Fotografie und Theater. Dort hat er 2006 bis 2009 die Kolumne «Abteilung für Lebensmittelkunde» geführt (daniel.difalco@derbund.ch).