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Die Zwetschge mit ihrem duftenden Blau ist bloss ein kurzer Spätsommertraum – umso bedauerlicher, trägt sie die Fingerabdrücke der Vergangenheit.

von Samuel Herzog*

Das Problem ist, dass sie in der Vergangenheit festhängt. Wenn ich eine Zwetschge sehe, dann kommt mir nämlich fast immer der Zwetschgenbaum im Garten meiner Grosseltern in den Sinn. Es war ein mächtiger Baum, der das zweistöckige Haus um viele Meter überragte. Und es war ein fruchtbarer Baum, der Jahr um Jahr zahllose kleine Zwetschgen produzierte. Das war allerdings auch im Reich der Insekten bekannt, weshalb Zwetschgenwickler und Blattläuse, Spinnmilben und Sägewespen gerne im Geäst ihrem Reproduktionsgeschäft nachgingen. Mit dem Ergebnis, dass viele Früchte voller Würmer und Maden waren.

Das betraf auf jeden Fall die Zwetschgen, die im unteren Bereich des grossen Baumes hingen, denn die Früchte in der Krone waren vor menschlichem Zugriff sicher. Mein Grossvater legte zwar stets eine mächtige Holzleiter an, stieg aber nie mehr als vielleicht sechs bis acht Stufen hoch. Als ehemaliger Bankangestellter war er ein vorsichtiger Mensch – im Gegenzug war er immer perfekt gekleidet, sogar bei der Zwetschgenernte trug er ein ausgesuchtes Kostüm. Meine Oma hätte es ihm sowieso untersagt, noch höher zu steigen – und von der Küche aus, wo sie oft wie eine Pianistin an ihrer Bügelmaschine sass, hatte sie den Zwetschgenbaum gut im Blick. Vielleicht ging es meiner Grossmutter allerdings nicht nur um das Wohl meines Grossvaters, sondern auch um Ertragskontrolle. Denn trotz den vielen Würmern war die Ernte immer noch beträchtlich – und meine Oma mochte keine Zwetschgen, weshalb sie die lästigen Früchte mit viel Zucker und noch mehr grimmiger Ergebenheit integral zu Konfitüre verkochte.

Ich wiederum mochte zwar frische Zwetschgen, hatte aber eine Abneigung gegen die Konfitüre. Ihr Aroma schien mir dumpf, unfreundlich und fremd, als seien die Früchte verbrannt – vor allem aber störten mich die eingerollten Zwetschgenhäute, die sich gerne zwischen den Zähnen festklemmten. Bis heute kommen mir, wenn ich Zwetschgen esse, zwangsläufig diese Konfitüre und der grosse Baum meiner Grosseltern in den Sinn.

Denn das Problem ist eben, dass die Zwetschge in der Vergangenheit feststeckt. So habe ich auch beim Schreiben andauernd das Gefühl, dass mich meine Mutter korrigieren wird: «Nein, der Baum hatte doch gar nicht so viele Früchte.» Oder: «Was redest du da, Oma hat auch Zwetschgenkuchen gebacken.» Meine Mutter lebt nicht mehr – und es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass sie mir im Traum erscheinen und mich in Zwetschgendingen eines Besseren belehren wird. Aber sie hat ihre Eltern wie Götter verehrt – deshalb hat sie natürlich trotzdem ein Wort mitzureden, wenn es um den Zwetschgenbaum im Garten von Oma und Opa geht.

Bei der Zwetschgenernte kommt es ja erstens darauf an, nur die reifen Früchte zu greifen, denn unreif geerntetes Obst kommt aromatisch nicht so recht in Schwung. Zweitens müssen die Zwetschgen so behutsam berührt werden, dass die Finger keine Spuren auf der wächsernen Haut hinterlassen. Für mich allerdings tragen alle Zwetschgen, gleichgültig mit wie viel Sorgfalt sie geerntet wurden, die Fingerabdrücke meiner Kindheit. Man mag das für eine schöne Sache halten – aber es ist auch ein Fluch, denn die Erinnerung entzieht mir die Frucht aus dem Hier und Jetzt, sie kontaminiert das säuerlich-lebendige und gerbstoffreiche Aroma, die ganz spezielle, nie klebrig wirkende Süsse. Vielleicht wäre es anders, gäbe es Zwetschgen das ganze Jahr hindurch – doch ihr duftendes Blau, der von Nebeln verhangene Nachthimmel ihrer Haut, ist bloss ein kurzer Spätsommertraum. – Ich war dreissig Jahre nicht im Garten meiner Grosseltern. Vielleicht sollte ich nachsehen, ob der grosse Baum noch steht – aber ob das wohl helfen würde, die Zwetschge aus der Vergangenheit zu befreien?

Dieser Text erschien erstmals am Samstag, 11.09.2015 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 61.