Gurkensalat und Gurkensuppe, Schmorgurke oder Salzgurke, Tsatsiki und Raita – alles hat seine Berechtigung. Eine Begegnung auf Augenhöhe aber findet nur statt, wenn man direkt in den grünen Knüppel hineinbeisst und ihn dabei fest in der Faust hält.
Mundstücke von Samuel Herzog
(Bild: Elsa Mudame)
Bei manchen Sorten spüren unsere Finger die Noppen, Überbleibsel einstiger Stacheln, bei anderen nur die Glätte des Schaftes. Es fühlt sich einerseits völlig richtig an, das Gemüse so zu halten und systematisch kurz zu beissen – auf der anderen Seite hat es etwas Ostentatives, vielleicht gar Vulgäres. Kann es sein, dass uns eine leichte Röte die Schläfen wärmt? Eine Gurke aus der Faust zu essen, das ist ein gesellschaftlich nicht kanonisierter Genuss – im Unterschied etwa zum Schlürfen einer Auster. Wer es in der Öffentlichkeit tut, erntet irritierte Blicke. Wobei niemand den Grund für die leichte Verstörung in Worte überführen wird, denn schliesslich sind wir ja erwachsen – ziemlich zumindest.
Mit lautem Knacken öffnen unsere Zähne die harte Schale, die eher aufspringt, als dass sie durchschnitten würde. Ganz kurz nehmen die Lippen einen Hauch von Bitterkeit wahr. Wir knirschen uns weiter durch das Fruchtfleisch in den weichen Kern, kühl und süss gibt sich die Gurke in uns auf. Im Mund macht sich ein fruchtiges Aroma breit, das ein wenig an Melone erinnert, aber würziger ist, fast wie ein Kraut, frisch und hell, knospig. Zum Stielansatz hin wird der Geschmack etwas grüner und fast ein wenig bitter. Es gibt allerdings manchmal auch Exemplare, vor allem in der kalten Zeit des Jahres, die schmecken, als habe man ein aromatisches Pendant zur Lichtlosigkeit eines grauen Wintertages züchten wollen.
Vielleicht ist das mit ein Grund, warum sich an der Gurke die Geister scheiden. Die einen schwören, dass nichts unter der Sonne sie mehr erfrische – andere halten das Gemüse für eine Strafe Gottes oder für einen Versuch des Teufels, den Gaumen zu Tode zu langweilen. Berühmt ist etwa ein Ausspruch, den Samuel Johnson 1773 während einer Fahrt auf die Hebriden getan haben soll: «Cucumber should be well sliced, and dressed with pepper and vinegar, and then thrown out, as good for nothing.» Ähnlich sieht es ein halbes Jahrhundert später auch Carl Friedrich von Rumohr, der die Gurke in seinem «Geist der Kochkunst» (1832) eine «gleichgültige Frucht» nennt, die allenfalls in gesottenem Zustand ein «erträgliches Zugemüse» abgibt und im Übrigen durch ihre «fade Süsslichkeit» sowie ihre «grobe und unverdauliche Fiber» auffällt. Nochmals gut sechzig Jahre später urteilt auch das «Appetit-Lexikon» kaum milder: «Als Gemüse hat die Gurke stets etwas Fades und wird mit Recht von der guten Tafel ferngehalten», schreiben Robert Habs und Leopold Rosner.
Dem steht allerdings Plinius entgegen, der in seiner «Naturgeschichte» berichtet, dass Kaiser Tiberius die Gurke als besonderen Leckerbissen geliebt habe: «Ja er hatte sie alle Tage, da die Gärtner ihre hangenden Mistbeete mit Rädern an die Sonne schoben, und wieder im Winter unter Glasverdecke brachten.» Das hört sich an wie die Beschreibung eines fahrbaren Gewächshauses. Tatsächlich verknüpfen wir die Gurke ja auch heute noch in erster Linie mit Gewächshaus-Kulturen – und trauen ihr deshalb auch schnell allerlei Böses zu, wie 2011 die Aufregung um den EHEC-Erreger zeigte.
Von fast allen Autoren gelobt wird die Gurke indes in eingelegtem Zustand, als salzige oder mehr noch als saure Gurke – einzig auf den Zeitungsredaktionen ist die «Sauregurkenzeit» nicht sonderlich beliebt. Wobei es für den Begriff, der heute die politisch ereignisarmen Sommermonate beschreibt, zwei sehr unterschiedliche Erklärungen gibt. Die einen glauben, man habe ursprünglich die letzten Wintermonate als «Sauregurkenzeit» bezeichnet – da es in diesem Moment im Jahr nichts als eingelegte Gurken zu essen gab. Andere wiederum vertreten die Ansicht, saure Gurken hätten früher «als billiges Volksnahrungsmittel namentlich in den heissen, in den Grossstädten ruhigen Sommermonaten eine grosse Rolle» gespielt (Udelgard Körber-Grohne).
Die Gurke hat in verschiedenen Märchen eine gewisse Bedeutung – zum Beispiel erhebt Hans Christian Andersen eine Gurke zum Richter im Streit zwischen «Hofhahn und Wetterhahn». Auf dem Höhepunkt der Geschichte tritt der Hofhahn zu der Gurke heran: «‹Gartengewächs!›, sprach er zu der Gurke, und in diesem einen Worte wurde ihr seine tiefe Bildung klar, und sie vergass es, dass er in sie hackte und sie auffrass. ‹Ein seliger Tod!›» Eine ganz andere Rolle spielen Gurken in dem afrikanischen Märchen «Mohamedi», das Carl Velten erzählt. Der um sein Vermögen geprellte Protagonist Mohamedi findet auf seinen Wanderungen heraus, dass der Konsum sehr reifer Gurken einem Hörner wachsen lässt – derweilen der Verzehr unreifer Gurken sie wieder zum Verschwinden bringt. Also zaubert er der Tochter des Sultans, die ihn hereingelegt hat, ein paar Hörner auf den Kopf, erpresst ihren Vater und erhält schliesslich mehr zurück, als ihm je abhandengekommen ist. Einen nochmals ganz anderen Blick wirft ein Rätsel der Syrjänen auf Cucumis sativus, das Yrjö Wichmann wiedergibt. Frage: «Eine Stube voll Volk, aber es ist kein Fenster, keine Tür in der Stube?» Antwort: «Die Gurke!»
Dass mehr in dem Gemüse steckt, als wir gemeinhin annehmen, lässt uns auch Plinius ahnen, wenn er von der Sehnsucht der Gurke nach dem Wasser spricht, das sie selbst von der Pflanze getrennt noch zu sportlichen Leistungen antreibt: «Auch abgeschnitten kriechen sie zu demselben, wann es nicht weit entfernt ist [. . .]. Dies kann man in einer Nacht wahrnehmen, wann man neben sie, vier Finger weit entfernt, ein Fass mit Wasser setzt, so sind sie vor Anbruch des folgenden Tages zu diesem herangerückt.» Bereiten wir in Gedanken eine feine Daunendecke über solchen Spannungen der Gurke aus, dann haben wir vielleicht mit einem Mal doch einen schönen Grund, wohlig zu erröten
Samuel Herzog
Dieser Text erschien erstmals am Sonntag, 19. Juli 2014 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 61.