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Die Tomate gehört zu jenen Nutzpflanzen aus der Neuen Welt, ohne die unser kulinarischer Alltag markant an Farbe verlieren würde: keine Tomatensuppe in der Alphütte, kein Ketchup bei McDonald’s und kein Tomatensaft über den Wolken.

Mundstücke von Samuel Herzog
Tomate_Mundstücke(Bild: Elsa Mudame)


Die Insalata caprese wäre so bleich wie die Pasta und der Siegeszug der Pizza ungewiss. Die Deutschen züchten heute mehr als kiloschwere Riesentomaten und geben ihnen liebliche Namen wie «German Giant» – in Japan auf der anderen Seite blättern Feinschmecker ein Vermögen hin für Früchtchen, die kaum die Grösse einer Johannisbeere haben.

Bei einer solchen Präsenz in unserer heutigen Welt lernt man mit einigem Staunen, wie jung die kulinarische Karriere dieser Frucht zumindest in Europa ist. In Mittelamerika soll sie von den Mayas schon in prähistorischer Zeit als Lebensmittel kultiviert worden sein, auch die Azteken züchteten sie und nannten sie «xitomatl», woraus dank der linguistischen Sorglosigkeit der Conquistadores unsere Tomate wurde. Kolumbus brachte die Pflanze auf seiner zweiten Reise mit nach Europa – allein die Alte Welt warf zwar durchaus ein Auge auf die Frucht und gab ihr schöne Namen wie «pomi d’oro», in den Mund aber nahm sie den Goldapfel allenfalls aus pharmazeutischen Gründen. Wie andere Exotika weckte auch die Tomate manch unverschämte Erwartung, was sie bald als «pomme d’amour» in den Schoss der Liebe fallen liess. Ja man hielt sie gar für würdig, im Garten Eden zu wachsen, weshalb sie wenigstens den Österreichern auch heute noch ein Paradeiser ist. In der Küche aber hatte sie noch lange nichts zu suchen. Wohl waren es die Italiener, die als Erste die kulinarischen Möglichkeiten von «pomi d’oro» zu erforschen begannen – doch auch sie brauchten einigen Anlauf. Giacomo Castelvetro auf jeden Fall, der 1614 die Früchte und Gemüse seiner Heimat beschrieb, erwähnt die Tomate mit keinem Wort. Wie Italiens Küche ohne «pomodori» funktionieren konnte, ist aus heutiger Sicht schwer vorstellbar. Immerhin war es dann 1692 ein Italiener (Antonio Latini), welcher der Welt das erste Tomatenrezept schenkte: eine «Salsa di Pomodoro, alla Spagnuola», laut Elizabeth David eine Art Gazpacho.

Das restliche Europa brauchte noch mehr Zeit, um auf die Tomate zu kommen und ihre kulinarischen Möglichkeiten zu erforschen. Auf der Wiener Weltausstellung von 1873 soll der Paradeiser noch als Kuriosum vorgeführt worden sein. Die dem Süden qua Geschichte besonders verbundenen Österreicher waren wohl die Ersten im deutschsprachigen Raum, die sich dem roten Naturknödel öffneten – aber auch sie nahmen den Paradeiser zunächst vorsichtshalber nur in gekochter Form zu sich. So schreibt das «Appetit-Lexikon» noch 1894 ganz verwundert: «In Spanien verspeist man die Tomate sogar roh, indem man sie in horizontaler Richtung in der Mitte zerschneidet und dann beide Hälften mit Salz bestreut.» Nun, auch so etwas will gelernt sein. Andere Regionen brauchten noch mehr Zeit, sich die Tomaten von den Augen zu nehmen und in den Mund zu legen. In Deutschland wurde die Tomate erst nach dem Zweiten Weltkrieg so richtig populär – und auch für meine Basler Grossmutter war sie noch ein ziemliches Exotikum, das allenfalls an feierlichen Tagen in mit Käse überbackener Form neben einem Schweinsfilet in Erscheinung trat – und so sehr Symbol einer neuen kulinarischen Weltläufigkeit war wie die Ananasscheiben aus der Dose.

Heute sind Tomaten das verbreitetste Gemüse überhaupt. Und längst haben wir uns daran gewöhnt, sie auch wie Äpfel roh zu essen – manchmal sogar aus der Hand, was indes ausnahmslos eine kleine Havarie provoziert (im besten Fall bekleckern wir uns das eigene Hemd, im peinlicheren Casus spritzt unserer Liebesapfel in den Nacken der jungen Dame, die vor uns im Bus sitzt).

Wer allerdings zur falschen Zeit oder am falschen Ort in eine Tomate beisst, der wünscht sich manchmal aus anderen Gründen, er hätte die Finger von der roten Verführung gelassen – oder es wenigstens wie Grossmutter gemacht und die Tomate mit Käse belegt und im Ofen mit viel Oberhitze in die Knie gezwungen.

Denn roh können Tomaten so geschmacklos sein, dass einem fast übel wird davon – ja manchmal hat man den Verdacht, hier sei sogar die völlige Absenz von Aroma noch unterschritten. Die Tomate würde also den Beweis antreten, dass es weniger noch gibt als nichts – und der Physik so völlig neue Spielräume jenseits des Vakuums eröffnen. Die Tomate kann aber auch anders – in der Saison, und die beginnt für einzelne Sorten aus südlichen Anbaugebieten schon im März, kommen uns manchmal Exemplare zwischen die Lippen, die herrlich süss sind und dabei gerade noch so sauer, dass sie frisch wirken. Sie haben eine Präsenz in unserem Mund, den sonst nur Dinge wie Fleisch oder reifer Käse haben – und erzählen uns mit ihren Aromen «nicht nur von der Sonne und der Erde», wie Deon Godet schreibt, «sondern auch die Geschichten der Nächte, in denen sie mit dem Tau auf ihrer Haut spielen und die Wärme des Tages von einer Kammer in die nächste fliessen lassen wie flüssiges Gold». Umami nennen das die Japaner und erklären es mit dem hohen Gehalt an natürlichem Geschmacksverstärker in der Tomate.

Wahrscheinlich allerdings verschaffen einem nur etwa zehn Prozent der Tomaten, die jährlich in der Schweiz verkauft werden, auch tatsächlich ein solches Pläsier. Der Rest schmeckt allenfalls nach einem wässrigen Salat (manche behaupten, nach Lattich), was wohl auch damit zu tun hat, dass die Früchte oft im Nichts (also hors-sol) gezüchtet werden. Dem Konsumenten ist das längst bewusst, ja die Tomate ist so etwas wie ein Symbol für die Betrügereien der Ernährungsindustrie – und so ein veritables Reizthema, das bei Gesprächen schnell für rote Köpfe sorgt. Dabei wird nicht zwischen schlechten und guten, sondern zwischen falschen und richtigen Tomaten unterschieden – als handle es sich um zwei verschiedene Früchte.

Doch was geschieht mit all den ungeliebten Liebesäpfeln? Ein Teil wird wohl einerseits schlicht wegen der Farbe eingesetzt – der Tomatenschnitz und das Petersiliensträusschen versuchen auch heute noch auf so manchem Bistroteller dem triefenden Wiener Schnitzel einen Hauch von Frische anzuzaubern. Dem erfahrenen Blick allerdings ist nichts so fahl auf Erden wie dieses rote Achtel.

Andererseits lässt sich noch aus der armseligsten Tomate eine aromatische Sauce kochen – auch wenn fast alle Rezeptbücher empfehlen, in Ermangelung von brauchbaren Frischtomaten doch lieber gleich zur Dose zu greifen. Noch die wässrigste Retortenfrucht verwandelt sich dank Hitze und Zeit in eine durchaus brauchbare Suppe oder Paste, die Süsse hat, Säure und sogar Geschmack.

Seit einigen Jahren verkauft man immer mehr Tomaten am Stiel. Der Erfolg erklärt sich wohl einerseits damit, dass die Früchte dank dem Grünzeug etwas natürlicher wirken – und man ihnen nicht mehr so direkt ansieht, dass sie am Tropf gewachsen sind. Andrerseits hat das Kraut einen sehr lebendig-würzigen Geruch, der allerdings kein Tomaten-Fruchtgeruch ist (eher riecht es nach Chicorée). Gut möglich, dass man dem Käufer vorgaukeln will, dies sei das Parfum der Tomaten.

Immerhin hat uns die Mode so einen neuen Duft beschert – schade, müssen wir die Lippen davon lassen, denn die Stiele sind wie das Blattwerk ziemlich giftig. Vielleicht ist das der Grund, warum die Tomate in Europa so spät erst ihr gustatives Feuerwerk hat zünden können – möglicherweise hat sich schon auf dem Schiff des Kolumbus ein armer Tropf mit einem aromatischen Salat aus herrlich duftenden Tomatenblättern an den Rand des Todes gefuttert.

Die Tomate ist ein Nachtschattengewächs, also nicht nur mit Tabak und Kartoffel verwandt, sondern auch mit giftigen Genossen wie Tollkirsche und Stechapfel – ausserdem ähneln ihre Früchte doch stark der bei Hexen beliebten Alraune, die gemäss dem Volksmund besonders gut unter Galgen gedeiht, ja gar aus dem Urin oder Sperma der Gehängten entstehen soll. Bei einer derart bösen Verwandtschaft kann wohl auch die Tomate nicht ganz ohne sein. Da die Bibel nirgends präzisiert, was für eine Frucht Eva vom Baum der Erkenntnis genommen hat (den vom Volksmund dahin gehängten Apfel schlagen die Theologen ja immer wieder zu Fallobst nieder), ist die Stelle neu zu besetzen: Die schöne Tomate mit ihrer bösen Verwandtschaft wäre sicher eine valable Kandidatin, auch als Glutamatbombe erfüllt sie alle Voraussetzungen einer gefährlichen Verführerin. Hing am Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, dem «lignum scientiae boni et mali», tatsächlich ein Malum aureum, dann war entweder Eva eine Indianerin – oder die Vertreibung aus dem Paradies war eine Verbannung aus der Neuen Welt. So wie so der Beginn einer ganz anderen Geschichte.


Samuel Herzog

Dieser Text erschien erstmals am Samstag, 16. August 2014 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung».