< Zur Übersicht

Eine Tramfahrt als Auslöser für ein nächtliches Kochen –
Ein Reiseversuch zu einem verlorenen Kindheitsgeschmack.

von Valerie-Katharina Meyer
knöpfli_sieb

Im Tram an einem Herbstabend

Einer der ersten Herbstabende in der Stadt: Ich sitze im Tram und fahre durch die einsamen Strassen, die so typisch für einen Sonntag mit Regen sind. Das Tram ist fast leer. Nur unmittelbar vor mir sitzt ein junges Paar und schweigt. Sie schweigen sich so beharrlich an, dass ich mir gar nicht mehr sicher bin, ob es sich nun um ein Paar handelt oder ob es nicht zwei Leute sind, die lediglich nebeneinander sitzen und schweigen, da sie sich fremd sind.

Die nächste Haltestelle, die Türe öffnet nicht. Wir fahren weiter, vorbei an verlassenen Strassen- kreuzungen und an Lichtern, die hinter den Fenstern leuchten. Alle sind schon zuhause, denke ich mir.

„Sag doch was“, meint da die Frau vor mir plötzlich. Also sind sie doch ein Paar, denke ich und warte gespannt. „Was gibt es da zu sagen?“, fragt der Mann, der neben der Frau sitzt und schüttelt den Kopf. „Ich esse nun mal keine Fertig-Knöpfli aus der Migros, ich mag die einfach nicht“, rechtfertigt sie sich. „Ach, hätte es meine Mutter nicht erwähnt, dann hättest Du es nicht mal gemerkt“, meint der junge Mann darauf und blickt wütend zu Boden. Offenbar hatte der Mann die Frau das erste Mal nach Hause genommen und den Eltern vorgestellt. Seine Mutter hat zu diesem Anlass Fertig-Knöpfli aufgetischt, und dies ausdrücklich betont. Vielleicht hat sich die Mutter auch dafür entschuldigt oder gesagt, sie selbst könne keine Knöpfli machen, vielleicht hat sie noch gar nie daran gedacht, selber solche zu machen, vielleicht hat sie Fertig-Knöpfli einfach lieber. – Jedenfalls konnte ich heraushören: Die neue Freundin des jungen Mannes hat sich geweigert, die Fertig-Knöpfli zu essen.

Nun sitzen die beiden im Tram, an einem Sonntagabend, nach einem anscheinend missratenen Abendessen bei seinen Eltern. Es regnet. „Du hättest Dir doch einfach Mühe geben können, nur einfach heute einmal nicht deinen Kopf durchzusetzen.“ Das ist das Letzte, was ich höre, bevor beide aussteigen.

Helle Erinnerungen

Das Tram rattert, ich fahre weiter. Das Tram hält noch zweimal, bis auch ich aussteige. Ich laufe nach Hause, der Himmel tropft, die Wolken schwärzen die Nacht. Ich denke an die Knöpfli meiner Mutter, die hellen von ganz früher, bevor Mama sie mit Vollkornmehl machte. Dieser Wandel fand etwa statt, als ich die Primarschule hinter mir hatte. Früher waren die Knöpfli meiner Mama hell, mit einem fast süssen Nachgeschmack. Doch irgendwann begann sie helles Mehl mit dunklerem zu mischen. Der Knöpfliteig wurde in meinen Kinderaugen dunkler und immer dunkler. Die Knöpfli verloren ihren Reiz.

Ab und zu versuchte meine Mutter uns auszutricksen, spielte mit unseren Sinnen und mischte das dunkle Mehl wieder vermehrt mit dem hellen. Doch den Geschmack von früher, den brachte sie uns nicht zurück.

Teig und Salz

Am liebsten esse ich die Knöpfli noch immer direkt aus dem Wasser, in dem sie kurz gesiedet werden, nicht gebraten, nicht mit Käse gemischt, sondern eben gekocht, noch feucht und butterzart. Dann spürt man im Mund nur Knöpfliteig und ein wenig Salz.
Endlich bin ich zuhause. Obwohl es schon spät ist, kann ich meine Sehnsucht nach Kindheit und Kochlust nicht unterdrücken und ich nehme das Fülscher aus dem Regal: Das Mehl in eine Schüssel sieben, in der Mitte eine Vertiefung machen. Nach und nach Wasser, Eier und Salz mit der Lochkelle einrühren und gut vermischen, bis der Teig glatt ist. Ihn dann tüchtig klopfen, bis er Blasen wirft und flockig von der Kelle fällt.

Mitternachtsessen

Während der Teig ruht, blicke ich durch das Fenster an die gegenüberliegende Hausfassade. Meine Freundin hat noch Licht. Während ich in die Regenfäden blicke, überlege ich kurz, dann rufe ich sie an: „Hast Du kurz Zeit für ein Mitternachtsessen?“ Sie meint müde, sie habe schon gegessen. „Es gibt nur ein paar Knöpfli – frisch aus dem heissen Wasser.“ Wenig später steht sie in Pantoffeln, Schlafanzug und einem Mantel vor meiner Tür. Wir warten noch kurz, dann schaben wir die Knöpfli durch die „Knöpfliraffel“, das Knöpflisieb, wie der Fülscher schreibt.
Als die Knöpfli endlich wie kleine Teigfische an die Wasseroberfläche steigen, können wir kaum noch warten. Endlich sitzen wir mit je einer Tasse Grüntee in der Hand auf dem Boden meiner kleinen Wohnung vor der Schüssel mit frischen mondlichthellen Knöpfli. Zwischen Tisch und Bett, zwischen Büchern und Taschen essen wir Knöpfli um Knöpfli. Das Fenster ist offen, draussen tropft noch immer das dunkle Blau. Es ist fast Mitternacht, und wir essen die kleinen Sternschnuppen aus meiner Kindheit.


Valerie-Katharina Meyer (1988) studiert an der Universität Zürich Germanistik und Geschichte, arbeitet daneben als Texterin und schreibt für verschiedene literarische und kulturelle Zeitschriften. Am liebsten aber kocht sie sich durch den Alltag, spielt mit Wörtern und lebt von Träumen.