Rote Erinnerungen wehren sich gegen blasses Vergessen
von Valerie-Katharina Meyer
Erdiger Geschmack und rote Farbe auf einem Streifzug von Süden nach Norden – den Randen nach.
Am Anfang dieses Textes steht eine Annahme. Die Erzählerin stützt sich auf die Vorstellung, dass sie sich besonders an jene Dinge erinnert, die irgendwie von einer roten Ausstrahlung umgeben sind. Also gerade jene Erinnerungen, die sie mit der Farbe Rot in Verbindung bringt, sind an Vergangenes verknüpft, das sie berührte. Und einige davon sind sogar randenrot.
Randen in der Süd-Ägäis
Während Randen im Norden Europas vor allem im Winter gegessen werden, sind die Rüben in Griechenland auch im Sommer eine beliebte Vorspeise. Randen werden dort an lauen Abenden häufig gegessen. Mitsamt den Blättern gekocht und serviert, bloss mit ein wenig Essig, Olivenöl und Salz verfeinert, sind sie ein erfrischendes Antipasto. Sie erinnert sich an eine Sommernacht am Meer: Sie sitzen neben dem Wasser. Es ist ein lauer Abend, meerluftwarm und blaugrün schwebt die Dämmerung über den See und umhüllt die Gespräche. Zwischen jedem Randenstück berühren sich ihre Füsse, dann heimlich ihre Knie. Die Dämmerung funkelt, die Berührungen erscheinen verlockend. So heimlich, unerlaubt. Als rote Erinnerungen bleiben sie ihr im Gedächtnis – zwischen Randen und grüner Nacht.
Randen gegen Osten
Der Tisch sieht hübsch aus, ein einfacher, runder, lila Tisch. Darauf eine Blume in einem alten Joghurt-Glas. Gerade, dass er ein wenig wackelt, gefällt ihr, und sie setzt sich. Anders als vorhergesehen, ist sie allein nach Belgrad gereist, ein wenig wehmütig. Aber die neuen Düfte, die fremden Wortsilben, die libellenartig durch die Lüfte fliegen und ihr zuschwirren, sind wie ein fremder, neuer Trost. Sie blickt auf die Speisekarte, sie kann sich nicht entscheiden. Sie wartet vor dem Lila, da sie nicht versteht, was es überhaupt gibt. Sie spürt einen Blick, eine junge Frau an einem anderen Tisch sieht sie an, sie lacht. Sie fragt das Übliche: Warum in Belgrad; der Name; die Herkunft? Aber dann ist das Gespräch nicht, wie sonst so üblich, zu Ende, sondern beide junge Frauen setzen sich zusammen und löffeln Randensuppe. Eine Freundschaft beginnt – mit Randen und einem lila Tisch.
Randen von zuhause
In der Erinnerung ist Randen in Béchamel das Gericht, wenn es schneit, wenn Rot und Weiss zusammenkommen. Das rote Gemüse vermischt mit einer kulinarischen Schneelandschaft ist ihre frühste Erinnerung an ein Randengericht. Als Kind mochte sie Randen nicht besonders, dafür liebte sie Béchamel. So verführte ihre Grossmutter das damals kleine Mädchen mit dieser Speise. Das Weiss täuschte es über das Rot hinweg. Sie erinnert sich wie sie in der Eckbank der Küche sitzt, aus dem Fenster den Vögeln zuschaut, die eifrig auf dem Sims die Körner picken, und die Béchamel mit den Fingern vom Teller schleckt. Weiss und randenrot fühlt sich die Erinnerung an, die wohl nur mit Geborgenheit umschrieben werden kann.
Dort, wo die Rande Rote Bete genannt wird
An der Ostsee, während eines Schreibkurses, da kann sie nicht schreiben. Denn das Leben ist zu bunt, zu aufregend. So spielt sie in einem Dorf, das so klein war, dass sie heute nicht mehr sicher ist, ob sie es überhaupt als Dorf bezeichnen darf, mit alten, häufig fluchenden Männern Boule auf einer Feldstrasse. Anfänglich wollte sie ihnen beim Fischen zuschauen und vielleicht ein paar Sätze darüber schreiben. Aber die grauen Männer entscheiden sich zum Boule-Spiel, und sie spielt aus Übermut mit. Dabei erfährt sie, dass man während des Kugelspiels immer auch Korn trinkt. Die rauen furchigen Fischerhände reichen ihr wieder und wieder den beissenden Schnaps. Kugelspiel und Schnaps werden wirrer. Dazu gibt es sauer eingelegte Rote Bete. Von dieser ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie sie mochte oder abscheulich fand. Denn die Erinnerung dreht sich, vielleicht auch vom Schnaps.
Irgendwann ist sie froh, mit leerem Rote-Bete-Glas, weg von der Feldstrasse, an der See zu stehen.
Es war gerade Ebbe; daran erinnert sie sich noch.
Schälst du Randen, schneidest du Randen, dann färbt sich deine Haut rot. Das dunkle Rot kriecht unter deine oberste Hautschicht und lässt sich mit blossem Wasser nicht mehr abwaschen. Das Randenrot, das sich verkriecht, verhält sich wie eine erlebte Geschichte, die als Erinnerung weiterlebt und dann, mit der waschenden Zeit, vielleicht doch irgendwann wieder blasser wird. Das Randenrot verliert sich. Deine Hände werden wieder hautfarben, deine alte Erinnerung von neuen Erinnerungen vertrieben. Und doch: Erinnerungen, die du als randenrot bezeichnen würdest, sind diejenigen, die länger bleiben. Vielleicht sind es keine wichtigen Erinnerungen, aber sie bleiben. So wie auch die Rande ihre kräftige Farbe nicht verliert, sondern alles, was mit ihr in Berührung kommt, in ihre Farbe einfärbt.
Valerie-Katharina Meyer (1988) studiert an der Universität Zürich Germanistik und Geschichte, arbeitet daneben als Texterin und schreibt für verschiedene literarische und kulturelle Zeitschriften. Am liebsten aber kocht sie sich durch den Alltag, spielt mit Wörtern und lebt von Träumen.