Es gibt Mundstücke, die haben eine grosse Vergangenheit – der Pfeffer zum Beispiel, der Apfel oder der gesalzene Kabeljau. Und es gibt Mundstücke, die haben überhaupt keine Geschichte – dazu zählt zweifellos auch der Hühnermagen.
Mundstücke von Samuel Herzog
(Bild: Elsa Mudame)
Kein antikes Kochbuch hält ihn für erwähnenswert, kein mittelalterlicher Arzt hat ihm eine heilsame Wirkung angedichtet, kein Gastrosoph ist je wegen eines Hühnermagens in Verzückung geraten – und auch die junge Küche unserer Tage streut weder Sternstaub noch Haubensalz über das Organ, in dem unser tapferes Haushuhn die Körner des Bauern mit den Würmern mischt, die es sich selbst aus dem Boden pickt.
Dabei ist der Hühnermagen ein kulinarisch durchaus reizvolles Organ. Einmal aufgeschnitten, entleert und von der goldenen Schleimhaut befreit, die das Muskelfleisch vor der Verdauungssäure schützt, hat der Hühnermagen etwa die Form eines Büstenhalters. Zwei grosse Muskelpakete sind durch dünnere Fleischpartien miteinander verbunden und werden von einem weisslichen Bindegewebe in Form gehalten. Warum baut das Tier wohl eine solche Muskelmasse rund um seinen Magenhohlraum auf? Vielleicht hat es mit den Magensteinen zu tun, den Gastrolithen, mit deren Hilfe das Huhn harte Nahrung zerkleinert, was es in seinem Schnabel ja nicht kann. Die Magenmuskeln wären also im Grunde Kaumuskeln, der Magen ein Mund, ein Bauchmaul sozusagen.
Die Magensteine verraten, dass das brave Haushuhn ein Nachfahre jener Saurier ist, die vor mehr als sechzig Millionen Jahren unseren Planeten beherrschten und sich teilweise ebenfalls von Steinen bei der Verdauung helfen liessen – der Ventriculus des Gallus domesticus hat also vielleicht keine Küchengeschichte, dafür aber rumpeln in ihm die grossen Ereignisse der Erdgeschichte nach.
Vielleicht sind die vielen Abdominalmuskeln aber auch sinnlos, was den Hühnermagen auf jeden Fall zu einem hochmodernen Fleischstück machen würde – schliesslich leben wir ja, was unsere Kraftraumkultur eindrücklich belegt, in einer Zeit des sinnfreien Muskelaufbaus. Mit der Grösse-Masse-Korrelation eines Hühnermagens kann es allerdings keiner unserer Hantel-Helden aufnehmen, weder Schwarzenegger noch Rummelsnuff. Diese enormen Muskeln dürften auch der Grund sein, warum man in den Niederlanden das Sprichwort kennt: «Hij heeft eene hoender maag» («Er hat einen wahren Hühnermagen»).
In der Küche sind diese Muskeln natürlich das grosse Plus des Hühnermagens, der zwar lange gegart werden will, dabei aber nicht nur freudig die beigegebenen Würzmittel und Flüssigkeiten umarmt, sondern auch eine einzigartige Konsistenz entwickelt, die sich selbst durch überlange Kochzeiten nur schwer verderben lässt. In seiner Bestform ist der Hühnermagen zart und knackig zugleich. Er fühlt sich im Mund geschlossen an, kompakt, irgendwie selbstverständlich – und hat doch etwas Offenes, eine Art Porosität oder Ausgefranstheit seiner äusseren Zonen. Der Magen hat einen urtümlichen Fleischgeschmack und ein seltsam unruhiges Aroma, das uns spontan an die geradezu übertrieben nervös wirkenden Bewegungen denken lässt, mit denen sich Hühner bei der Futtersuche bewegen – könnten es nicht auch diese Magenmuskeln sein, die das Tier derart herumhühnern lassen? Kein Wunder, bringt so ein kleines Stück aus der Mitte des Huhns auch Mund und Gaumen tüchtig auf Trab.
Der Magen ist ganz bestimmt eines der besten Fleischstücke des Huhns – und nur Wahnsinnige können auf die Idee kommen, so eine Delikatesse an ihre Hunde zu verfüttern. Wobei wenigstens die Chance besteht, dass einen das Haustier durch eigenes Ungeschick auf den glücklichen Weg des Mundstücks zurückführt – so geschieht es jedenfalls in einem Gedicht, das Deon Godet («Die Sprache des Fleisches») wiedergibt: «Mein Hund der tat sich beklagen / stets gäb es nur Hühnermagen / er hätt sich am Ventriculus / gefressen arg den Überdruss / nun nagt er einen alten Schlauch / und ich geniess den Hühnerbauch.»
Samuel Herzog
Dieser Text erschien erstmals am Dienstag, 10. März 2015 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung».