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Ganz besonders oft wird das menschliche Gehirn als Blumenkohl angesprochen, wenn Wahnsinn oder Dummheit mit im Spiel sind – ja es kommt einem manchmal vor, als sei der Blumenkohl eine Art Degenerationsform unserer zerebralen Zentrale.

Mundstücke von Samuel Herzog
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(Bild: Elsa Mudame)


In «Les Amazones de la voie lactée» (1973), der etwas banalen Geschichte eines von kriegerischen Frauen durch allerlei Weltraumabenteuer gesteuerten Kampfschiffes, beschreibt die Autorin mit dem Pseudonym Uhoura einen von primitiven Humanoiden bewohnten Planeten namens Brassika, auf dem Blumenkohl (oder Karfiol, wie ihn die Österreicher nennen) ausschliesslich zu rituellen Zwecken angebaut wird. Wenn ein Streit zwischen zwei Stämmen ausbricht, dann versammeln sich Repräsentanten beider Gruppen in der Halle des Krieges, wo sie sich gegenseitig die wüstesten Beleidigungen an den Kopf werfen. In einem zweiten Schritt werden auf beiden Seiten ebenso viele Blumenkohl-Köpfe annihiliert, wie es Kontrahenten gibt. Nach Abschluss dieser kulinarischen Katharsis sind beide Parteien gehalten, die Art des Sprechens über den jeweiligen Gegner zu verändern. Ausgiebig beschreibt Uhoura alle Details dieses Rituals – ein für die siebziger Jahre typischer Versuch, Modelle für unblutige Konfliktlösungen zu entwickeln. Dass die Autorin ausgerechnet den Blumenkohl als Peacemaker einsetzt, und nicht irgendein anderes Gemüse, ist natürlich kein Zufall. Form, Farbe und Grösse des Karfiols ähneln dem menschlichen Gehirn und machen den Kreuzblütler so zu einem idealen Stellvertreter in einem Ritual, welches die symbolische Totalvernichtung des Gegners vorsieht.

Ganz besonders oft wird das menschliche Gehirn als Blumenkohl angesprochen, wenn Wahnsinn oder Dummheit mit im Spiel sind – ja es kommt einem manchmal vor, als sei der Blumenkohl eine Art Degenerationsform unserer zerebralen Zentrale. Es gäbe Beispiele zuhauf aus der Literatur – ein besonders farbiges Exempel liefert Gustav Sack (1885–1916). Wenn er in seinem Romanfragment «Paralyse» beschreibt, wie der Irrsinn an seinem Verstand nagt, dann kommt in dem Passus wie selbstverständlich auch der Blumenkohl vor: «Es ist totenstill und abertausend kleine Korkenzieher, immerfort, sie bohren in mir immerfort, in meinem Blut, in meinem Saft, in meinem Hirn, ah! dieser rotgescheckte Blumenkohl! Wie schwer er ist, wie Stein; [. . .] und in meinem hortensienroten Hirnblumenkohl wachsen tückische Granulationsgeschwüre, die degenerieren fettig und verkäsen.»

Fast scheint es, als wirke das Bild vom vegetabilen Hirn in uns so stark nach, dass wir den Karfiol mitunter als eine Art Wesen ansehen. Wenn wir uns zum Beispiel einen Mann vorstellen, der sich auf einer Parkbank mit einem Blumenkohl unterhält, dann kommt uns das auf jeden Fall weniger seltsam vor, als wenn er dasselbe mit einer Tomate täte – oder etwa nicht?

Auch abgesehen von seiner Hirnförmigkeit ist der Karfiol ein ganz ausserordentlicher Charakter. Allein sein Gewicht macht ihn schon zum Sonderfall in der sonst eher leichtlebigen Gemüsewelt. Und dann die Selbstverständlichkeit, mit der er sich von unseren Fingern umgreifen lässt, als wäre er aus unserer Hand herausgewachsen. Man könnte tanzen, mit einer Rosette in jeder Hand, einen feierlichen Blumenkohlwalzer – wenn wir das mit zwei Gurken täten, sähe es nach einer absurden Performance aus, mit Karfiol aber hätte es eine eigene Schönheit.

Wenn man einen Blumenkohl aus den festen Blättern löst, die ihn wie ein Reifrock umgeben und noch majestätischer erscheinen lassen, dann spürt man, dass man da etwas Besonderes auspackt. Gurke oder Radieschen, Lattich und Kohlrabi, das sind alles eher Sklaven unseres Appetits – beim Blumenkohl aber ist das anders, er ist eine Perle, die wir mit Respekt berühren.

Dabei soll, was wir als Blumenkohl essen, im Grunde die Missbildung einer Blüte sein – von Gärtnern in Kleinasien erdacht und erzüchtet, von den Genuesen oder den Venezianern im 15. oder 16. Jahrhundert nach Westeuropa verschleppt. Auf jeden Fall ist der Karfiol ein Embryo, eine Rosette aus Knospen mit stark verdickten Stengeln, die manche Köche mehr noch schätzen als die käsigen Teile – so belehrt etwa Frau Dörr in Theodor Fontanes «Irrungen, Wirrungen» die Schneidermamsell Lene: «Dass es immer die Köppe sein müssen, is ja dummes Zeug. Ebenso wie mit ’n Blumenkohl; immer Blume, Blume, die reine Einbildung. Der Strunk is eigentlich das Beste, da sitzt die Kraft drin. Und die Kraft is immer die Hauptsache.» Welche Kraft im Karfiol steckt, wird auch deutlich, wenn man das Gemüse nicht an seiner natürlichen Entwicklung hindert: Schnell treibt die Rosette auseinander, die Triebe verlängern sich, die Knospen werden grösser, verfärben sich grün und entfalten sich schliesslich als gelbe Blüten. Auch die weisse Farbe ist dem Wesen nicht von Natur aus gegeben – um sie zu erhalten, binden die Gärtner dem Kohl die grossen Hüllblätter über dem Kopf zusammen, so dass sich aufgrund des Lichtmangels kein Chlorophyll bilden kann. Die Franzosen und Italiener allerdings züchten auch gerne grüne, rote oder violette Formen. Und die Niederländer bringen, wenn sich ihre Nationalmannschaft irgendwo an einem Ball abmüht, jeweils leuchtend orange Exemplare auf den Markt.

Der Blumenkohl hat viele Namen. Neben dem vom italienischen Cavolfiore abgezweigten Karfiol kennt man ihn auch unter Bezeichnungen wie Käsekohl, Blütenkohl oder Traubenkohl. Der schöne Name Minarettkohl wird meist nur für die bei Rom gezüchtete Variante Romanesco gebraucht, die Mathematikern eine freudige Röte ins Gesicht treibt, weil sie in ihr sowohl die Fibonaccireihe finden als auch fraktale Strukturen: So besteht (wie ja auch beim Blumenkohl) jede Rosette aus ähnlich geformten kleineren Rosetten und so fort.

Roh hat der Blumenkohl einen hellen holzigen Duft und ein leicht pelziges bis nussiges Aroma mit einer leichten, etwas harzigen Schärfe. Gedünstet entwickelt er einen zurückhaltenden Kohlgeschmack mit Moschusnote. Seine Konsistenz, im akkurat gegarten Zustand irgendwo zwischen Marzipan und einem weichen Alpkäse, lässt ihn nährender wirken als anderes Gemüse, voll und reich. Dabei gibt er sein luxuriöses Fleisch grosszügig her, ohne grosses Wenn und Aber. Wollte man sich modisch geben, könnte man von einem barocken Gemüse sprechen. Vielleicht rührt es daher, dass sich der Blumenkohl trotz aller Käsigkeit im Mund auch immer leicht unwirklich anfühlt, als könnten wir das rechte Verhältnis zu ihm nicht finden, als sei er ganz gross und ganz klein zugleich, ganz nah und ganz fern – nicht ganz von diesem Planeten.


Samuel Herzog

Dieser Text erschien erstmals am Sonntag, 28. Juni 2014 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 61.



→ Eine Anleitung für die «Fülscher»-Blumenkohlsuppe finden Sie unter: Nr. 62 «Fülscher» neu rezeptiert