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Von Samuel Herzog

Es geschah auf dem Rücksitz eines Volvos, bei 150 Sachen, kurz nach Olten auf der Autobahn in Richtung Luzern. Ich war zwar schon vierzehn Jahre alt –aber in gewissen Dingen noch völlig ahnungslos.

Sie war die Mutter meines Schulfreundes Sandro. Eine Blondine, die das Leben so rücksichtslos genoss, wie es ihre bescheidenen Verhältnisse zuliessen. Ihrer Jugend, in der sie eine Schönheit gewesen sein muss, war sie schon seit einigen Jahren entglitten. Sie versuchte etwas juvenile Frische dadurch zurückzuholen, dass sie sich stundenlang in der Sonne briet –höchstens beschattet von der Glückspost, die ihr das neueste Unglück der Fürsten und Stars ins Gemüt rieseln liess. So war sie immer braun, tiefbraun. Die ständige Schmuserei mit Helios hatte allerdings auch zur Folge, dass ihr ganzer Körper kräftig von Runzeln besetzt war –was sie dadurch zu kaschieren suchte, dass sie kiloweise Goldschmuck trug.

Mit der gleichen Unerschrockenheit ging Sandros Mutter auch in der Küche ans Werk und tischte alles auf, was sie für fein und freudvoll hielt: Schweinskoteletts und Cervelats, Kartoffelsalat mit Greyerzer Doppelrahm, Paprika-Chips in Familienpackung, Salami in dicken Rädern, Ketchup, Mohrenköpfe, Mars-Riegel, Cola und alkoholfreies Panaché –lauter Dinge, die meinen Eltern so wenig ins Haus gekommen wären wie die Glückspost.  

Selbstverständlich genoss ich all die feisten Schlemmereien und liess mich ständig und mit Begeisterung verführen. Meine Eltern hätten mir den Umgang mit diesen «ja schon ein bisschen einfachen» Zeitgenossen gerne verboten –ihre sozialdemokratische Gesinnung aber stand ihnen im Weg. Und als ich ihnen verkündete, dass mich Sandros Familie eingeladen habe, mit ihnen für die Pfingstferien an den Sempachersee zu fahren, wo sie ein kleines Häuschen auf einem Campingplatz ihr eigen nannten, verdrehten sie bloss die Augen und liessen mich mit einem Seufzer ziehen.

Ich habe ihnen nie erzählt, was wirklich geschah. Ich hockte neben Sandro im Fond des Wagens und glitt etwas unruhig auf dem feinen Schweissfilm hin und her, der sich zwischen meinen nackten Schenkeln und dem Kunstleder des Sitzes gebildet hatte. Sandros Eltern sassen vorne und schienen vollauf mit der Frage beschäftigt, ob die Radar-Warnanlage wohl zuverlässig funktioniere, die sie sich frisch zugelegt hatten, um etwas schneller am Sempachersee zu sein. Plötzlich drehte sich Sandros Mutter zu mir um. Ihre weinrot bemalten Lippen schürzten ein verführerisches Lächeln: «Hast du Lust?», fragte sie, und ohne die Antwort abzuwarten, drückte sie mir ein dick in Alufolie verpacktes Sandwich in die Hand. Zwei Scheiben Toast und dazwischen ein Salatblatt, Schinken, Käse, Essiggurke und ein kräftiger Schlag Mayonnaise. Ich kannte ihre Sandwiches schon, sie gab Sandro immer reichlich davon in die Schule mit. Diese Sauce aber schmeckte ganz anders als sonst: Sie war leicht bitter und hatte eine gewisse Schärfe, in die sich eine Ahnung von Caramel und Heu, Noten von gerösteten Nüssen, Nelken, überreifen Früchten und Maiglöckchen mischten. All dies verband sich zu einem Odem, der wie aus einer anderen Dimension in mich eindrang und tief in mir drin etwas zum Leben erweckte. «Was ist denn das», fragte ich, «da ist so etwas in der Sauce drin.» Sandros Mutter lachte gurrend und warf dabei den Kopf in den Nacken:«Du meinst ganz bestimmt das Curry.» Ich hörte dieses Wort natürlich nicht zum ersten Mal, aber auf einmal wusste ich, was es bedeutete: Welt!   Mit einem Schlag wurde mir klar, dass es da draussen, jenseits der schützenden Mauern, die meine Eltern um mich und meinen zarten Kindergaumen errichtet hatten, ein ganzes Universum von Geschmäckern geben musste, die zu entdecken, zu erforschen waren.

Es sollte zwar noch einige Jahre dauern, bis ich mich in diese neue Welt aufmachen konnte. Und noch etwas länger bis ich lernte, was ein richtiges Curry sein kann. Das Currypulver aber war mir während dieser Zeit so etwas wie eine aufgebrochene Pforte, durch die Ahnungen sickerten, welche die grössten Erwartungen in mir nährten. Zu Recht, wie sich herausstellen sollte.

Mundstück Nr. 25 ist Teil der Sammlung von 33 Mundstücken, die 2017 im Zürcher Rotpunktverlag erschienen ist. Das Buch (163 S., 33 Abbildungen, Fr. 18.-) kann im Raum 8 gekauft oder per Mail s.voegeli@raum-acht.li bestellt werden (+ 3.- Verpackung und Versand, gegen Rechnung).