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Was lernt eine junge Griechin als erstes kochen in der Schweiz?

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Nr. 1428: Fruchtwähen (Gâteau aux fruits)
→ Siehe Anleitung unter: Nr. 1428 «Fülscher» neu rezeptiert


Fragtest Du mich, was eine Apfelwähe für mich bedeute, so müsste ich eine ebenso unkulinarische wie unpoetische Antwort geben: Die Apfelwähe ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Seit ich auf der Welt bin, begleitet sie mich. Als ich noch unter Stühlen umherkrabbelte, war ich schon imstande eine Wähe mit Äpfeln zu belegen, um ihr dann, sobald sie aus dem Ofen kam, wieder zielsicher alle Apfelstücke herauszufingern. Später, als ich in die Schule ging, kam die Vorliebe für den Guss, und ich versuchte – vorsichtig – mit der Gabel zuerst den gesamten Guss zu essen, danach drehte ich das restliche Wähenstück meinem kleinen Bruder an, um mich einer weiteren Guss-Extraktion zuzuwenden. Die Apfelwähe begleitet mich schon immer durchs Jahr, durch meine Jahre. Als Abendessen, manchmal als Dessert. Kommt es zu der seltenen Situation, dass ein kleines Stück übrigbleibt, so lohnt es sich, am Morgen als Erste aufzustehen, oder sich zumindest mit dem Bruder leidenschaftlich um das letzte Stück zu streiten. Schon als ich an der Uni war und mit Ghostwriter Masterarbeit an meinem Projekt gearbeitet habe, haben wir oft Apfelkuchen gegessen.  

Von den Äpfeln auf dem Kuchenteig, umgeben vom süssen Guss geht eine besondere Anziehung aus. Dabei erzählt uns der Alltag etwas anderes: Die Apfelwähe gibt es überall.

In jeder Bäckerei und sonstigem Laden, in vielen Cafés – Du findest sie in allen Ecken der Stadt, und das erst noch in verschiedensten Variationen. Die rasche Erhältlichkeit einer Wähe hat auch ihre Vorteile. Wie oft bin ich nach der Uni vor Hunger fast umgekommen – meine Retterin war ein rasch irgendwo gekauftes Stück Apfelwähe. Doch jedes Mal, wenn ich meinen grossen Hunger gestillt habe, wird mir erneut klar, wie gross doch der Unterschied zu Mutters Wähe ist. So möchte ich fest behaupten: Eine gekaufte Wähe kann nie die gleiche sein wie die, mit der man aufgewachsen ist, wie die, welche man selbst auch bäckt.

Der Wunsch nach einer eigenen Wähe

An einem regnerischen Dienstag kommt Dona, eine Studentin aus Griechenland mit der Bitte, zu mir nach Hause zu kommen, um zu kochen. Verwirrt, aber auch erfreut über den Vorschlag, sage ich natürlich zu. Vor allem da sie mir erklärt, dass sie nun schon ein halbes Jahr in der Schweiz wohne, aber noch nie bei jemandem zuhause essen oder kochen konnte und somit keine Ahnung von der Schweizer Küche habe, obwohl diese sie eigentlich interessiere. Ich überlege mir schon eine Vielzahl von Gerichten, die ich ihr beibringen könnte, frage sie dann aber doch zuerst, was sie denn am liebsten kochen lernen möchte.
Eine Apfelwähe, entgegnet Dona ohne nachzudenken. Weil für mich die Apfelwähe eine Selbstverständlichkeit ist, bin ich ein wenig erstaunt über diese Antwort. Denn auch das Backen einer Apfelwähe habe ich bisher als eine Selbstverständlichkeit angesehen, die nicht wirklich erlernt werden muss.

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Der Tag der Apfelwähe

Wir entscheiden uns, am folgenden Wochenende aufs Land zu meinen Eltern zu fahren, um dort in der grossen Küche das Experiment von Donas erster Apfelwähe in Angriff zu nehmen.
Der Tag der Apfelwähe: Natürlich geht alles langsamer als gewohnt. Mir kommt die Idee, den Kuchenteig nach dem Fülscher-Kochbuch zuzubereiten, doch dann ist Dona plötzlich viel mehr am Kochbuch als am Teig interessiert. All die Namen der neuen Gerichte, die sie noch nie auf einer Speisekarte im Restaurant finden konnte, liest sie mir laut vor, während ich den Kuchenteig selbst zubereite. Später wird mit jedem Apfel, den wir schälen, eine ganze Geschichte erzählt und inspiriert von neuen Kochplänen, die wir gleich nach der Wähe in Angriff nehmen wollen, wird Donas erste Wähe nicht golden, sondern eher braun. Doch nun endlich setzen wir uns alle um den Tisch, die Wähe in der Mitte. «Es ist weder Nachmittag noch Abend, Apfelwähe kann zu jeder Zeit gegessen werden», wird Dona informiert. Eigentlich habe sie sich die Zubereitung viel komplizierter vorgestellt, meint sie und blickt zufrieden auf den verbrannten Kuchen. Wir beginnen mit dem Essen, mein Bruder versucht heimlich, die verbrannten Randstücke unter den Tellerrand zu schieben. Wir lachen, auf die Wähe blickend. Die Wähe wird kleiner, das Blech grösser. Plötzlich sagt Dona, wie schön es für sie sei, hier am Tisch zu sitzen.

«Wie ein Apfelstück in einer Wähe fühle ich mich, irgendwie zuhause, plötzlich geborgen im Kuchenteig. Denn obwohl alle Apfelstücke verschiedenen sind, so gehören sie doch zusammen, werden vom Guss umarmt», meint sie.

Die erste selbstgemachte Wähe bekommt für Dona also plötzlich eine ähnliche Bedeutung, wie sie es für mich schon seit jeher hatte. Die Selbstverständlichkeit, die Dona in ihrer Wähe findet, könnte man umschreiben mit dem süssen Gefühl von Dazugehörigkeit, fast schon einer Art neukreierter Heimat. Vielleicht ist gerade dies das eigentliche Rezept, das uns die Wähe für unser Leben weitergibt.


Valerie-Katharina Meyer (1988) studiert an der Universität Zürich Germanistik und Geschichte, arbeitet daneben als Texterin und schreibt für verschiedene literarische und kulturelle Zeitschriften. Am liebsten aber kocht sie sich durch den Alltag, spielt mit Wörtern und lebt von Träumen.