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Wie die Kartoffel zuerst den Hunger in Europa abschaffte. Und wie sie dann von der Hauptsache zur Beilage wurde.

von Daniel Di Falco

Man schrieb das Jahr 2008, die Cervelat-Krise war schon fast überstanden – es gab wieder Därme für die Nationalwurst. Doch da dräute über dem Land schon das nächste Unheil: Die Kartoffeln wurden knapp. Kurz vor der Fussball-Europameisterschaft meldete der Branchenverband Swisspatat eine unerwartet hohe Nachfrage nach Pommes frites und warnte vor leeren Kartoffellagern. (Und dann drohte auch noch das Bier auszugehen.)

Wäre noch Krieg gewesen: Der Bundesrat hätte die Anbauschlacht auf den Fussballplätzen angeordnet. Doch die waren wegen der EM auf jeden Fall besetzt, und so erlaubte die Volkswirtschaftsministerin den zusätzlichen Import von 5000 Tonnen aus dem Ausland – auf das Gesuch des gleichen heimischen Branchenverbands, der noch zwei Monate vorher gegen die Einfuhr von Frühkartoffeln aus Ägypten protestiert hatte. Noch bemerkenswerter ist allerdings, dass es überhaupt noch einmal knapp wurde mit der Kartoffel: Das ist ganz gegen den grossen Trend.

 

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ass man in Europa nämlich immer mehr Kartoffeln, doch seither sind es immer weniger. Und das unaufhaltsam. Zuletzt sank der Verbrauch in der Schweiz von 120 Kilogramm pro Kopf und Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg auf knapp über 40 Kilo heute. 90 000 Hektaren Kartoffeläcker gab es zur Zeit der Anbauschlacht 1944; heute sind es nur noch 11 000. Für diese Knolle gibt es ein Gesetz: Sie gehört zu jenen Gütern, deren Verbrauch sinkt, wenn der Wohlstand steigt.

«Heiland der Armen» – so nannte man sie, als die Bevölkerung in Europa derart angewachsen war, dass die Teller immer öfter leer blieben. Lange hatten die Leute zwar nichts von den «Erdäpfeln» wissen wollen, die die spanischen Eroberer um 1530 in den Anden aus dem Boden gegraben und in die Alte Welt gebracht hatten. Hier wurde die Kartoffel als Zier- und Heilpflanze in den Gärten der Klöster und Fürstenhöfe gehalten, aber essen wollte sie zwei Jahrhunderte lange niemand: Sie galt als unbekömmlich bis giftig; man schrieb ihr Fieber zu, ausserdem Gicht, Verblödung und Aussatz. Das erfuhr auch Friedrich der Grosse, der Preussenkönig, als er 1756 seinen Untertanen den Anbau der Kartoffel befahl: als «nützliches und sowohl für Menschen als Vieh auf sehr vielfache Art dienliches Erd-Gewächse». Doch das nützte so wenig wie die ganze übrige Propaganda von Gelehrten und Beamten.

Erst die Not brach das Misstrauen. Während der Hungerkrise von 1770/71 wurde die Kartoffel hierzulande erstmals in grösserem Massstab angebaut. Tatsächlich war sie leicht zu lagern, leicht zu kochen und zudem viel ergiebiger als Getreide. So füllte sie die Bäuche einer schnell wachsenden Unterschicht: Bald assen die Bauern und die Arbeiter vor allem Kartoffeln – und viele nichts anderes mehr. Vom Überdruss zeugt ein Spruch aus dem thüringischen Arbeitermilieu zur Mitte des 19. Jahrhunderts: «Kartoffeln in der Früh, des Mittags in der Brüh, des Abends samt dem Kleid, Kartoffeln in Ewigkeit!»

Bei so viel Monotonie auf den Tellern ist es auch kein Wunder, dass der allgemein steigende Wohlstand im Zeitalter der Industrialisierung dann nicht in Kartoffeln investiert wurde: Man ass lieber mehr Gemüse, Obst und vor allem Fleisch. So stieg die Kartoffel von der Hauptsache zur Beilage ab. Und wahrscheinlich würden heute noch viel weniger Kartoffeln gegessen, wären die Pommes frites nicht erfunden worden. Maschinenstrassen, Tiefkühlketten und elektrische Friteusen verwandelten den Erdapfel in ein praktisch neues Nahrungsmittel. Und beförderten ihn so in die Ära
des Massenkonsums. So wie er im 19. Jahrhundert die traditionellen Brei-, Mus- und Suppengerichte verdrängt hatte, so war ernun bei einem weiteren charakteristischen Wandel der Ernährung wieder vorne dabei: Das Essen wurde erst richtig modern mit der schnellen Verpflegung ausser Haus und mit den Convenience-Produkten, bei denen ein grosser Teil der Zubereitung schon in der Fabrik passiert. Beides verkörpern die frittierten Kartoffelstäbchen, die in der Nachkriegszeit zur Massenware wurden.

Wegen der Gnocchi jedenfalls werden die Kartoffelvorräte nicht so schnell zur Neige gehen. Und wegen der hausgemachten schon gar nicht.