Frau Fülscher wollte sie stets «dick und gut gewürzt»: Mayonnaise war eine staatstragende Substanz im kulinarischen Universum der Nachkriegszeit. Doch schon bald war es mit ihrer Herrlichkeit zu Ende.
Appeal und Widerwille, Gesundes und Schädliches – wenn es ums Essen geht, kommen die Eindrücke naturwüchsig und spontan. Es gibt aber kaum ein gewichtigeres Indiz dafür, wie relativ diese Reflexe in Wahrheit sind, als den Mann, den die Deutschen noch heute als Vater ihres Wirtschaftswunders in Ehren halten. Auf den Bildern von damals sieht man, wie ihm der Hemdkragen tief in den Speck am Nacken schneidet, und den Hals kann man lediglich vermuten unter seinem imposanten Doppelkinn. Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister unter Adenauer, hatte auch keinen Grund, seine Fülle zu verbergen, als er 1963 für die CDU als Kanzler kandidierte. Auf den Plakaten blickt er pausbackig in die Zukunft. Sein Wahlspruch: «Lasst den Dicken ran!» Dabei stand er für all das, was heute den Kalorienzählern und den Besseressern zugeschrieben wird: Willensstärke, Leistung, Erfolg, Ansehen, Wohlergehen.
1945 war der Krieg zu Ende gegangen, aber noch nicht der Hunger. Umso tiefer prägte sich den Westdeutschen die «Fresswelle» ein, die dann anrollte. Zwischen 1950 und 1960 wuchs der Pro-Kopf-Verbrauch von Schweinefleisch von 19 auf fast 30 Kilogramm, der von Eiern von 7,4 auf 13,1 Kilo, und die 3000 Kalorien, die 1955 im Tagesdurchschnitt konsumiert wurden, waren Allzeitrekord in der Geschichte der Bundesrepublik. Fett war die Währung des Wohlstands, und so konnte einer wie Erhard zum leibhaftigen Garanten einer besseren Zukunft werden.
Kitten, füllen, panzern
Die Schweizer kamen nicht so ausgezehrt aus der Kriegszeit, und sie hatten kein Trauma in einem «Hungerwinter» abbekommen wie die Deutschen 1946/47. Aber auch hierzulande setzte damals ein beispielloses Wirtschafts- und Wohlstandswachstum ein, und auch das spiegelte sich in der zunehmenden Üppigkeit zu Tisch. Wobei das Lebensgefühl der neuen Zeit gerade am kalten Buffet ‒ Russische Eier, Schinkenröllchen, reichlich Mayonnaise! ¬‒ mit Händen greifbar war. «Jeder Gast bedient sich nach Lust und Laune selbst», so Elisabeth Fülschers Instruktion von 1966.
Man sieht es auf den Farbtafeln ihres Kochbuchs: Unter der Wucht der Hors d’œuvres biegen sich die Platten (Tafel 4 [inkl. Italienischer Salat], ferner Tafeln 3, 7, 8). Und auch wenn die Mayonnaise nur als Garnitur und Überzug firmiert ‒ sie ist eine staatstragende Substanz im kulinarischen Universum jener Jahre. Stets «dick und gut gewürzt», hält sie die barocken Vorspeisengebirge im Inneren zusammen. Sie kittet den Italienischen wie den Russischen Salat (Rezepte Nr. 120 und 121), bildet das Fundament für Blumenkohlskulpturen (124) und Dosenspargelplatten (125), füllt gehöhlte Tomaten (143) oder Eier (157) und panzert den gesottenen Salm (138) genauso wie die Seezunge (139) und den Hummer aus der Büchse (140) (Sehen Sie dazu auch den Beitrag «Mit den Fingern in den Hirnfurchen»). Und sie kittet den Italienischen wie den Russischen Salat (Rezepte Nr. 120 und 121).
Wobei: Der Italienische ist ja eigentlich der Russische Salat, nach heutigen Begriffen jedenfalls. «Italienisch» bei Fülscher ist nämlich das bekannte Gemenge von gekochtem und klein geschnittenem Gemüse mit Mayonnaise, «russisch» dagegen die Version mit Fleisch, also mit zusätzlichen Schinken-, Zungen oder Roastbeefwürfelchen. Die hat auch mehr mit jenem Original zu tun, das ein Koch in den 1860er-Jahren in seinem Moskauer Restaurant servierte. Das Restaurant hiess Eremitage, der Koch Lucien Olivier, und dass er Franzose war, hat die Karriere seiner legendären Kreation ebenso wenig behindert wie das Geheimnis, das er um seine Sauce machte, die einer Mayonnaise ähnlich gewesen sein soll.
Das Imperium der Mayonnaise
So wurde der Russische Salat nicht bloss in Russland selber zum nationalen Standard, als kalte Vorspeise zu Neujahrs- und anderen Festen (und zwar unter dem Namen «Oliviersalat»): Er hat sich in weiten Teilen der Welt eingebürgert, vom Iran über den ganzen Balkanraum bis nach Spanien, wenn auch zumeist in der fleischlosen Ausführung. Auch in Italien gilt die «insalata russa» gegen alle Evidenz heute als typisch italienisch; echt italienisch ist höchstens die Namensvariante «insalata alla genovese», also Genueser Salat. Aber auch hier hält viel «maionese» traditionell die Zutaten zusammen, und auch hier kursieren mittlerweile Light-Versionen ohne Mayonnaise.
Tatsächlich waren die kalten Platten einmal ihr Königreich. Und dann dieser Artenreichtum! Bei Fülscher gibt es sie auf pikante Art, mit Kräutern, Safran, geriebenen Äpfeln oder Avocado (595), gesulzt (596), mit Quark (597) und Mandelmilch (599), gemischt mit Pilzen (127), Geflügel oder Schinken (134), Crevetten oder Thon (137) und sogar mit Kaviar (141). Leichte Küche? Das war damals etwas für die Kranken. Wenn man allerdings etwas genauer hinsieht, dann merkt man der Mayonnaise die kommende Zeit schon an. Bereits das Grundrezept (595) erlaubt, mit der Zugabe von heissem Wasser, eine «etwas weniger ölige und leichter verdauliche» Variante. «Fettarm» schliesslich und «deshalb auch geeignet für Diät» ist die «falsche Mayonnaise» (598), bei der Mehl und Milch oder Joghurt das Öl ersetzen. «Im allgemeinen wird heute zu viel Fett konsumiert», heisst es zudem, wenn auch nur so allgemein und unverbindlich, in der kleinen Ernährungslehre vorn im Buch: Übergewicht sei «einer der grossen Ernährungsschäden in den sogenannten hochentwickelten Ländern».
Das Gesetz der Knappheit
Tatsächlich hatte schon Mitte der Fünfzigerjahre ein Gespenst die Gäste an den kalten Buffets aufgescheucht: die «Managerkrankheit». Zu viel Fett und zu viel Stress ‒ das war, nach den alarmierenden Diagnosen mancher Mediziner, die Ursache für die wachsende Quote von Schlag- anfällen und Herzinfarkten an den Spitzen der Gesellschaft. Zumal in Deutschland sah man ausgerechnet die Leistungsträger des Wiederaufbaus bedroht von diesem neuen Wohlstandsleiden. Die Angst vor dem Fett hat schliesslich auch der Mayonnaise den Garaus gemacht; aus der gehobenen Küche wurde sie in den Siebzigerjahren durch die Nouvelle Cuisine vertrieben, zusammen mit den schweren Bratensaucen und den Butterklötzen.
Allerdings können weder moderne Medizin noch moderne Kochkunst allein erklären, warum das Fett vom Bonus zum Malus werden konnte. Immerhin war der Schmerbauch über Jahrtausende ein Privileg gewesen, ein Ausweis von Gesundheit und Kraft (Ludwig Erhard konnte davon noch profitieren), während umgekehrt die Mageren ein Bild von Krankheit und Schwäche abgegeben hatten. Die Historiker erklären es mit dem Gesetz der Knappheit: Gesellschaftlich gefragt ist stets das Rare. Solange es Dicke und Dürre im Überfluss gab, war jede Kalorie in der Küche Gold wert. Erst die westlichen Konsumgesellschaften haben dann die Körperfülle demokratisiert. Und damit auch das Fett vom Thron gestossen.
Was die Mayonnaise mit ihrem ramponierten Ruf angeht ‒ ihr wird diese Relativitätstheorie kaum noch helfen können.