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Dill ist ein Charakter von einem Kraut, der den Speisen wildes Leben einhauchen kann – aber er wird oft gedankenlos eingesetzt.

Mundstück von Samuel Herzog

Natürlich hatte es ein Zweiglein Dill auf dem halben Hummer aus Maine, den der exorbitant freundliche Kellner vor mir auf den Tisch stellte. Ich sass auf dem besten Kreuzfahrtschiff einer deutschen Reederei, und da war das ganze Personal so fröhlich, so nett, so frei von allem Zynismus, ganz einfach übertrieben. Allerdings war für meine Begriffe auch der Dill too much, der das bisschen Hummergeschmack, das die Wärmelampe noch nicht aus dem kleinen Tier getrocknet hatte, vollends überdeckte.

Ich mag Dill sehr gerne, diesen unruhigen, holzig-harzigen, zwischen Wiesenkümmel, Anis und Zitruszeste changierenden Duft, durch den manchmal Ahnungen von Thymian, Pampelmuse und amerikanischer Minze huschen. Auch im Mund finde ich das Kraut aufregend.

Es schmeckt ein bisschen bitter, süss zugleich, und man kaut quirlige Aromen von Liebstöckel, Tannengrün und Fenchel heraus. Im Nachhall beruhigt sich dann alles zu einem reinen, an den Ton einer Stimmgabel erinnernden Klang. Dill ist ein Charakter von einem Kraut, der den Speisen wildes Leben einhauchen kann – und fettige Fische, Sahne- und Senfsaucen, Gurken, Rote Bete, Kartoffeln und manche Früchte bereichert. «Aber der Dill ist auch ein Killer», wie Deon Godet in seiner «Sprache der Gewürze» kalauert.

Wie Korianderkraut hat er eine Riesenklappe, die alle zarteren Aromen niederbrüllt und sich in den unterschiedlichsten Kontexten mit Gewalt durchzusetzen weiss. Trotzdem legt oder schnippelt man in vielen Küchen, vor allem nördlich der Alpen, zum Abschluss gern noch etwas Dill über die Speisen – oft unüberlegt, und namentlich, wenn es sich um ein Fischgericht handelt. Aber vielleicht lebt darin der alte Volksglaube weiter, dass «gedilltes» Fleisch nicht verhext werden kann.

Auch das ältere Pärchen an dem Tisch, der schräg vor mir stand, hatte Hummer aus Maine bestellt – da wir vor ein paar Stunden erst den Hafen von Bar Harbor verlassen hatten, drängte sich diese Wahl ja auch geradezu auf. Zumal die Referenzen ans Terroir auf so einem Schiff doch eher die Ausnahme sind (und Gäste, die eine Angelschnur aus der Kabine hängen lassen und den Tuna dann in der Badewanne selber zerlegen, sind in dieser Luxusklasse wohl eher die Ausnahme). Die Dame hatte ein wenig zu kämpfen mit ihrem Hummer, denn sie wollte sich an dem Tier partout nicht die Nägel schmutzig machen. Dabei muss ihr das Dillzweiglein in die Haare gespickt sein und baumelte nun wie ein Stück Seetang vor ihrer Stirn. Das sah lächerlich aus, und die Gäste an den umliegenden Tischen warfen immer wieder verstohlene Blicke zu dem Paar hinüber – um zu kontrollieren, ob der Dill wohl immer noch an der Dame hing. Auch der Mann hatte das Zweiglein längst bemerkt. Er sagte nichts, aber ich sah, wie die Ahnung eines spöttischen Lächelns um seine Mundwinkel schlich.

Plötzlich fiel mir die «Titanic» ein. Natürlich, das musste es sein. Wahrscheinlich träumte der Mann in ebendiesem Moment davon, dass wir auf einen herumirrenden Eisblock treffen und untergehen würden. Sie würde zu den Fischen absaufen, er aber würde zu den Auserwählten gehören, die davonkommen. Wahrscheinlich sass er in ebendiesem Moment in einem kleinen Boot und ruderte in Richtung Küste, in Richtung Freiheit, in Richtung eines neuen, endlich selbstbestimmten Lebens.

Mit der Alge im Gesicht sah die Gattin ja tatsächlich ein wenig aus, als sässe sie schon auf dem Meeresgrund. Zu dieser titanischen Phantasie passt allerdings auch das Aroma von Dill, denn es hat etwas von einem rücksichtslosen Befreiungsschrei.

Bei der Jungfernfahrt meines Edeldampfers soll laut Internet tatsächlich einer versucht haben, seine Frau über die Reling zu stossen. Doch dabei spielte der Dill wohl keine Rolle – oder doch? Fortsetzung folgt – in Kill Dill 2.