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Ich schreibe eigentlich stets über Nahrungsmittel und Gerichte, die ich kenne. Oder manchmal lerne ich Gerichte und ihre Zutaten kennen, damit ich über sie schreiben kann. Bei der Dörrbirne ist dies ein wenig anders. Ich versuchte sie kennen zu lernen, doch vergeblich. Nun schreibe ich trotzdem darüber – ein Versuch.

von Valerie-Katharina Meyer
doerrfrucht

Der Werdegang von der reifen Frucht zum gedörrten Rest ist mir natürlich bekannt. Jeden Herbst, seit ich mich erinnern kann, steht in meinem Elternhaus der Dörrex in der Küche auf dem Gusseisen des Holzofens. Es ist jene Zeit, in der es noch zu warm ist, den Kachelofen in der Küche einzuheizen, so ist seine Herdplatte noch kalt und unbenutzt. Und der Dörrex thront mit seinen vielen runden Ablagen auf der dunklen Platte und er trocknet Zwetschgen, Äpfel, in guten Jahren auch Pfirsiche.

Der Werdegang ist immer wieder mühsam: Zuerst müssen all die Früchte in Schnitze zerlegt werden, dann werden sie auf den runden, metallenen Netzen aufgereiht. Während der Dörrex sie aufwärmt, beginnen sie zu duften: nach Sommer und Herbst zugleich, nach Frucht und nach gekochtem Fruchtmus, nach Süsse und auch ein wenig nach Fäulnis. Während die aufsteigende Wärme die Früchte durchluftet und der Dörrex sein Rad dreht, müssen seine Tablare stets wieder anders angeordnet werden, das unterste Tablett wandert wieder ganz nach oben und umgekehrt. Jedes Mal, wenn man sich dem Gerät nähert, verführt es einem zum heimlichen Naschen eines Apfelstückchens, das aussen zwar warm und schon weich ist, innen aber noch saftig knackig wie man es von einem frischen Apfel kennt. Sind die Apfelschnitze und Zwetschgenhälften dann endlich geschrumpft und gedörrt, so verführen sie für eine kurze Zeit mit ihrer konzentrierten Süsse. Viele werden in ihrer Kleinheit hastig gegessen, und jener Teil, der vor dem voreiligen Naschen gerettet werden kann, verschwindet entweder im Stoffsäckchen oder landet im Tiefkühlfach.

Ich weiss nicht warum, aber gedörrte Birnenschnitze gab es in meiner Familie nicht, schon gar keine Dörrbirnen. Höchstens aus der Verarbeitung in Birnenwecken kommt mir die Dörrbirne bekannt vor, aber inmitten von Nüssen und Gewürzen, umgeben von Teig kann keine eigentliche Beziehung zur Dörrbirne aufgebaut werden. Ohne eine Erfahrung mit der Birne und ihrem dörrenden Werdegang zu haben, setzte ich mich bis anhin überhaupt nicht mit ihr auseinander.

Als ich in der Migros nach frischer Kokosnuss suchte, sah ich auf der Ablage ein Kartonschächtelchen mit der Aufschrift: DÖRRBIRNEN. Ich nahm das Schächtelchen in die Hand und betrachtete die geschrumpften Birnen durch das Plastikfenster auf der Oberseite. Sieben oder acht Birnen lagen darin nebeneinander. Kleingetrocknet und braun erinnerten sie mich mit ihren tiefen Furchen an Morcheln oder an einen asiatischen Pilz. Und sie faszinierten mich. Wie konnte es sein, dass ich mir all die Jahre nicht ein einziges Jahr vorgestellt hatte, dass eine ganze getrocknete Birne so aussehen könnte? Noch immer das Schächtelchen mit dem Guckloch in der Hand überlegte ich mir, diese Birnen zu kaufen. Entschied mich dann aber dagegen. Nicht aus Widerwillen vor diesem dunklen Geschmackerlebnis, vielmehr kam es mir seltsam vor, diese Birnen zum ersten Mal als ein abgepacktes Nahrungsmittel zu finden. So stellte ich die Schachtel zurück.

Als ich meine Eltern darauf anspreche, warum wir noch nie Dörrbirnen gehabt, nie Birnen getrocknet hätten, rufen beide aus: „Ach, Hutzelbirnen, vergiss diese!“ Ich verstand zuerst nicht genau, was sie meinten. Doch ihr Abneigung der Dörrbirne gegenüber ist in ihrer Kindheit zu finden: Die sogenannten Hutzelbirnen mussten den ganzen Winter hindurch gegessen werden, in allen Variationen, sodass sie diese nun stets vermeiden. Doch beide sind überrascht, dass ich die Dörrbirne und auch den Ausdruck hutzelig gar nicht mehr kenne. Es scheint, als habe die hutzelige Birne und ihr Werdegang innerhalb eines halben Jahrhunderts an viel Präsenz verloren.

Meine Gedankenwelt zur Dörrbirne wächst und vergrössert sich. Ihre runzlige Art wird mir zunehmend sympathisch. Als ich mir ihren Geschmack vorzustellen versuche – birnig, klebrig, süss, hutzelig? – gelingt mir dies aber nicht. Ich schreibe hier nun nicht mehr weiter, denn ohne Begegnung mit der Dörrbirne macht es keinen Sinn.


Valerie-Katharina Meyer (1988) studiert an der Universität Zürich Germanistik und Geschichte, arbeitet daneben als Texterin und schreibt für verschiedene literarische und kulturelle Zeitschriften. Am liebsten aber kocht sie sich durch den Alltag, spielt mit Wörtern und lebt von Träumen.