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Die kochende Hausfrau im Dienst der Landesversorgung? Vorratshaltung, wie Elisabeth Fülscher sie lehrte, hatte manchmal auch mit der Staatsräson zu tun.
von Daniel Di Falco
Goldhirse

Klar, mein Haus ist meine Burg. Und mein Teller erst recht. Aber in Krisenzeiten wird das Essen auch zu einer Frage des Gemeinsinns, der kollektiven Ressourcen. «Heute ist es ganz besonders wichtig, ja notwendig, die Kochkunst im besten Sinne des Wortes zu beherrschen, um die zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel möglichst gut, zweckmässig und volkswirtschaftlich verwerten zu können.»
So steht es bei Elisabeth Fülscher, und zwar in der vierten Auflage ihres Kochbuchs, die 1940 erschienen ist – im Zweiten Weltkrieg. Sie passte ihre Rezepte damals den Vorgaben der Rationierung an, integrierte die Empfehlungen des Eidgenössischen Kriegsernährungsamts und stellte auch ein «Merkblatt für das Kochen in Kriegszeiten» zusammen.

Die eiserne Ration
Die Köchin als Teil der Volksgemeinschaft: So war es im Krieg. Und ein bisschen von diesem Geist war auch noch übrig, als Fülschers Küchenbibel 1966 in achter Auflage erschien. Eintrag Nummer 1762, die «Vorratshaltung»: «Als Grundlage gilt der empfohlene, obligate Notvorrat, den sich jeder Schweizer Haushalt pflichtgemäss halten, regelmässig kontrollieren und laufend erneuern sollte.» Reis, Teigwaren, Öl, Fett und Zucker, von allem ein bis zwei Kilo pro Person: die eiserne Ration.
Die Hausfrau ohne Vorratsschrank war damals sogar staatsgefährdend. So jedenfalls lehrte es ein legendäres, ja berüchtigtes rotes Büchlein, das der Bundesrat zu jener Zeit in sämtliche Haushalte verteilen liess. Es hiess «Zivilverteidigung», und es liess die Frauen wissen, es sei «unsozial», erst im Ernstfall ans Eingemachte zu denken: «Wer sich an Panikkäufen beteiligt, zeigt nicht nur seinen Mangel an Gemeinsinn, sondern bestätigt auch, dass er versäumt hat, seinen Not- und Katastrophenvorrat ordnungsgemäss anzulegen.» Darum: «Warten Sie nicht, bis sich die politische Lage wieder zuspitzt. Dann könnte es zu spät sein.»
So klang der Kalte Krieg. Elisabeth Fülscher sprach 1966 zwar ebenfalls von «Pflicht», aber die entsprang nun weniger der Not der Zeit oder dem Interesse des Staats, sondern vor allem der traditionellen Berufsehre der Hausfrau, die ihre Vorräte nie bis zum letzten Tropfen Öl aufbraucht und nichts wegwirft, was noch essbar wäre. Insofern war Vorratshaltung für Fülscher eben «nicht nur vorsorglich, sondern auch praktisch»: Sie «erleichtert und verbilligt das Kochen wesentlich».

Krümel verwerten
Nicht umsonst folgen auf Nummer 1762 zwei ausgiebige Listen für die Verwertung von allerhand Resten (1763 und 1764). Krümel von Biskuits und Konfekt beispielsweise empfahl Fülscher zum Bestreuen von Tortenrändern, Saucenreste zum Gratinieren von Gemüsen, und die Schalen von Orangen und Zitronen wurden, abgerieben und mit Zucker vermischt, in Gläsern aufbewahrt: «Für Gebäck und Süssspeisen. Ist lange haltbar.» Fast zwanzig Seiten widmete Fülscher schliesslich der Kunst des Konservierens (1714−1756).
Allerdings war dieses ganze Wissen selber nicht mehr lange haltbar. In den Sechzigerjahren war die Schweiz endgültig zur Massenkonsumgesellschaft geworden, und mit dem neu gewonnenen Wohlstand änderte sich nicht nur der Umgang mit dem Essen, sondern auch das Ideal der Herdarbeiterin. «Die Vorkriegshausfrau», so erklärt es der Historiker Arne Andersen, «wusste noch sehr genau, wann die verschiedenen Nahrungsmittel Saison hatten und sie preisgünstige Vorräte anlegen konnte. Statt dessen musste sich die Nachkriegskonsumentin nun in einer verwirrenden Warenvielfalt orientieren, um ihre Kaufentscheidungen zu treffen.»

Erziehung zum Konsum
Über Jahrhunderte waren Vorratshaltung und Verwertungsgeschick, Masshalten und Sparen Voraussetzung für das Gelingen, wenn nicht das Überleben eines Haushalts gewesen − darauf kam es jetzt, da gutes und ausreichendes Essen zur Normalität geworden war, tatsächlich nicht mehr an. Im Gegenteil: Das Ethos der Enthaltsamkeit stand dem neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell des Konsums im Weg. Im Juli 1961 hielt der Migros-Genossenschafts-Bund eine Tagung zu konzeptionellen ökonomischen Fragen ab, und das Vortragsthema eines Experten waren «die Probleme der Umerziehung eines Landes zu einem höheren Lebensstandard».
Mit der Umerziehung scheint es geklappt zu haben. Sparen beim täglichen Essen gibt es heute – für die allerallermeisten – nur noch im Geschichtsbuch. In der Ära der 24-Stunden-Läden und des Online-Shoppings rät der Staat zwar immer noch zu einem Notvorrat, mit der ewigen eisernen Ration, wahlweise ergänzt mit Rösti aus dem Beutel, Fertigsuppen und Futter für den Hund. Aber von Gemeinsinn ist heute keine Rede mehr. Vielmehr zählen zu den «ungewohnten Situationen», für die eine «vernünftige Vorratshaltung» sinnvoll wäre, ausser «Hochwasser, Lawine, Murgang, Orkan, starkem Schneefall, Krankheit» auch die ganz alltäglichen Katastrophen im Leben eines individualistisch gebauten Konsumenten. Nämlich, wie es auf einem Merkblatt des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung heisst: «wenn unerwarteter Besuch kommt oder man nicht dazu gekommen ist, genügend einzukaufen». Und zwar «aus welchen Gründen auch immer».