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Roh ist ihr Fleisch etwas zäh und hat ein wuchtiges Aroma, das süsslich-fasrig-fröhlich ist, fast wie bei der Kokosnuss, mit ätherischen und leicht brennenden Noten aber, wie sie auch Knollensellerie, Schwarzwurzel oder Liebstöckel eigen sind. Zusammengehalten wird das Ganze von einer ernsten, schweren Erdnote.

Mundstücke von Samuel Herzog

Pastinaken_715

Es gibt Menschen, die wirken, als wohnten sie wohlig in den Armen der grossen Gaia – wie nahe sie der Erde tatsächlich sind, ist allerdings schwer zu sagen. Mein eigenes Leben kommt mir auf jeden Fall meist nicht sehr bodennah vor – halten mich meine Ängste und Sehnsüchte, Träume und Verwirrungen doch eher in einer Art Daseins-Blase fest, die immer leicht über der Planetenkruste zu schweben scheint.

Beim aufmerksamen Genuss eines ganz besonderen Wurzelgemüses aber kann es geschehen, dass ich unvermittelt von einer starken Empfindung meiner Präsenz auf dem Weltboden überrascht werde, von einem Erdrausch geradezu. Es ist ein feierliches Gefühl, das mir die banale Tatsache meines Vorhandenseins auf dieser Kugel plötzlich als etwas absolut Grossartiges erscheinen lässt – und die Einzelheiten meines akuten Befindens wie ein heller Lichtstrahl überblendet.
Gemeint sind Pastinaken, die in der Antike als Delikatesse galten und noch in der frühen Neuzeit sehr beliebt waren, im 18. Jahrhundert aber von den immer feiner werdenden Karotten verdrängt wurden. Heute werden die Moorwurzeln zwar wieder häufiger angebaut, ihre Präsenz in der Küche aber bleibt bescheiden.

Nur schon der Anblick der Pastinaken bringt mich dem Wachstum im Erdboden nahe, denn dass sie pfeifengerade und glatt auf den Markt gelangen, wie meist die Karotten, kommt so gut wie gar nie vor. Es scheint, als hätte jede der markanten Wurzelknollen unter Tag versucht, eine ganz eigene Gestalt anzunehmen, so etwas wie ein Gesicht zu entwickeln. Und wenn man diese Schollengeister dann in die Hand nimmt und ihnen mit den Fingern über die Rippen fährt, dann spürt man förmlich, wie sich diese Körper gegen den Humus gelegt und gestreckt haben. Unter der hellbraunen Haut liegt das elfenbeinfarbene Innere, das etwas faserig wirkt und eher trocken – ganz besonders im reinweissen Kern. Roh ist ihr Fleisch etwas zäh und hat ein wuchtiges Aroma, das süsslich-fasrig-fröhlich ist, fast wie bei der Kokosnuss, mit ätherischen und leicht brennenden Noten aber, wie sie auch Knollensellerie, Schwarzwurzel oder Liebstöckel eigen sind. Zusammengehalten wird das Ganze von einer ernsten, schweren Erdnote. Die tritt in der gekochten Knolle fast noch stärker zutage – wobei die Wurzeln das Wasser in eine erstaunlich dickliche Brühe verwandeln, fast, als hätte man es mit einem Schweinsfuss zu tun.
Beim Backen hingegen entwickelt die Pastinake eine nährende Dichte wie Kartoffeln oder Maniok. Das Aroma rückt zwar in die Nähe desjenigen von Kastanien – entfernt sich aber nie ganz von der Scholle. An dieser hartnäckigen Ackerhaftigkeit muss es liegen, dass mich die Pastinaken beim Essen in diesen überschwänglichen Zustand versetzen können, in dem ich eine unauslöschbare Verbundenheit mit dem Erdreich fühle.

Dieser Humus-Taumel ist allerdings meist nur von kurzer Dauer – und kann auch kaum durch Gespräche verlängert werden. Selbst wenn ich Freunden erklären könnte, was mir beim Biss in diese Wurzel passieren kann, würde ich es doch mit allerlei humorvollen Brechungen tun – und mich so selbst davon distanzieren. Vielleicht würde ich anfügen, dass es eine alte Pastinake war. Schon Dumas überliefert ja, dass ein «panais trop vieux», laut den Engländern, zu einem Delirium, ja sogar zu Wahnsinn führen könne – und deshalb «panais fou» genannt werde.
Dummerweise lässt sich das Grossartige auch nicht erzwingen, denn manchmal ist die Pastinake einfach ein Gemüse, das uns mit seiner Süsse und seinem hohen Stärkegehalt auf eine besonders warme Weise nährt, für die mir kein besseres Wort einfällt als «mütterlich» – womit die mächtige Göttin Gaia zum Schluss ja doch wieder Platz genommen hätte.

Dieser Text erschien erstmals am Freitag, 4. Dezember 2015 als Teil der Serie «Mundstücke» (46) in der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 59.