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Er ist schon da, wenn sonst noch gar nichts da ist: der Rhabarber. Noch vor dem Spargel taucht das Gemüse, das seinen Verehrern meist lieber ein Obst ist.


Mundstück von Samuel Herzog 

Er ist schon da, wenn sonst noch gar nichts da ist: der Rhabarber. Noch vor dem Spargel taucht das Gemüse, das seinen Verehrern meist lieber ein Obst ist, auf den Märkten zwischen den letzten, bereits etwas borstigen Winterwurzeln auf, besungen vom schon etwas heiseren Chor der Kohlköpfe: «Frühling», krächzt alles, wenn der Rhabarber kommt, und hustet sich den letzten Kälteschleim aus den Bronchien: «Es ist Frühlingszeit!» Zwischen den runzligen Pastinaken und den bärtigen Steckrüben machen die blassgrünen, vor Kraft strotzenden Stangen eine jugendfrische Figur – und die eigentümliche Röte, die ihnen in die Haut geschossen ist, lässt sie noch juveniler erscheinen, freudig entflammt, voller Erwartung, kussbereit.

Die Erregtheit des Barbaren lässt auch in der Küche nicht nach. Ziehen wir ihm die fein strukturierte, kaum merklich und nur sporadisch genoppte Haut vom Leib, so stossen wir auf kräftige Fasern, die ohne jedes Zaudern pfiffgerade vom Wurzelansatz zu den riesigen, pfotenartigen Blättern rasen. Diese Blätter sollen giftig sein und kommen deshalb nicht zu kulinarischen Ehren. Mit abgezogener Haut sehen die Stangen aus, als seien sie um die Wette gewachsen, etwas zu forsch, etwas zu gradlinig, übermütig auf jeden Fall.

Es lohnt sich, ein Stückchen Rhabarber roh zu kosten – auch wenn die Lebensmittel-Experten sich einig sind, dass das Gemüse im strotzenden Zustand eine masslose Überforderung für unseren Gaumen und unsere Verdauungsorgane darstellt. Der Duft ist eher süsslich-fruchtig, ein wenig exotisch fast – als Antwort auf den ersten Druck unserer Zähne aber spritzt uns der Rhabarber eine ganz eigenwillige Säure in den Mund, die grasig wirkt und unreif. Es ist eine kalte und fast technisch wirkende Herbheit, die uns wie das Gegenteil jener sonnenvollen Säure vorkommt, mit der die Zitrone unsere Schleimhäute verwöhnt. Das erdig-rostige Aroma, das sich mit der Säure im Mundraum ausbreitet, lässt an den verwandten Sauerampfer denken – doch es fehlt dem Rhabarber die Milde der sommerlichen Luft. Roh bietet das Gemüse keinerlei Erfüllung, eher provoziert es ein Gefühl von Leere, von Bodenlosigkeit – dazu passt auch der pelzige Belag, den es auf den Zähnen hinterlässt.

Gekocht lässt die Säure des Rhabarbers ein wenig nach, verliert sie ihre Spitzen. Nun riecht das Gemüse ein wenig wie zu lange gekochtes Kraut, auch breitet sich ein Strand vor uns aus, auf dem ein paar Algen verrotten. Im Mund hat der gekochte Rhabarber eine ganz leicht holzige Würze, schmeckt jedoch vor allem wässrig und hohl. Auf jeden Fall hat das Aroma mehr mit Hunger zu tun als mit dessen Befriedigung. Das erinnert uns daran, das die Menschen früherer Zeiten gerade im Frühling den grössten Mangel litten – wenn sich die Natur in üppigster Pracht präsentiert, aber noch kaum Kalorienhaltiges hergibt. Der Rhabarber wäre das perfekte Symbol dieser Situation, in der sich das Auge an den farbigsten Übertreibungen vollfressen kann – der Bauch aber weiterhin knurrt. «Zucker!», brüllt unser Gaumen – unser Herz aber schreit: «Verrat!».

Rhabarber ist Nr. 6 aus der 2014 begonnenen Mundstücke-Serie.

33 Mundstücke sind 2017 im Zürcher Rotpunktverlag erschienen. Das Buch (163 S., 33 Abbildungen, Fr. 18.-) kann im Raum Acht gekauft oder per Mail bestellt werden (+ 3.- Verpackung und Versand, gegen Rechnung).