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Wie jedes andere Fleisch ist auch das Rinderherz einfach ein Stück eines toten Tieres. Und doch mischt es sich beim Verzehr auf besondere Weise in unsere Gedanken ein.

Mundstücke von Samuel Herzog
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(Bild: Elsa Mudame)


Wir grüssen herzlich, langen bei gewissen Speisen besonders herzhaft zu und haben einzelne unserer Zeitgenossen von ganzem Herzen gern. Einiges nehmen wir uns sehr zu Herzen, manches tut uns gar im Herzen weh, herzlos indessen sind meist nur die anderen. Wir malen kleine Herzen auf Geburtstagskarten, legen unserer Liebsten ein silbernes Herz um den Hals und stechen «Brunsli» in Herzform aus. Mal steht das Herz nur für «Love», dann für das ganze Leben. Manche ritzen Herzen in Bäume und Kakteen, andere in die eigene Haut. Das Herz ist uns als Metapher und Symbol so selbstverständlich wie der Boden, auf dem wir stehen. All dies nimmt ein abruptes Ende, wenn der Metzger 2 Kilo dunkles Fleisch vor uns auf den Tresen klatscht: «Das ist es, was Sie bestellt haben», sagt er mit einem Lächeln dazu, «Ihr Hund wird sich freuen.» Wir erröten, als habe man uns dabei erwischt, wie wir unseren Nasenpopel essen, heben dann in einem trotzigen Gedanken kurz das Bein gegen die Metzgerstheke, bezahlen an der Kasse einen lächerlichen Betrag, tragen das Herz in unsere Hundehütte und packen es dort auf dem Küchentisch wieder aus.

Es wäre völlig falsch, zu sagen, die Metapher sei Fleisch geworden. Das Gegenteil ist der Fall: Dieses Fleisch hat alles Metaphorische auf einen Klatsch abgestreift. An einem nackten Rinder- herzen ist wahrlich nichts Symbolisches, in seiner organischen Präsenz steht oder besser liegt es ganz für sich selber, ein blutbrauner, leicht mit Fett besetzter Muskel, in dessen Oberfläche Adern tiefe Spuren hinterlassen haben.

Wie jedes andere Fleisch ist auch das Rinderherz einfach ein Stück eines toten Tieres. Und doch mischt es sich beim Verzehr auf besondere Weise in unsere Gedanken ein. Als wäre der Tod nicht schon endgültig genug, bringt man das Rindvieh gewissermassen noch einmal um, wenn man sein Herz verzehrt. Auch aus einem Filet oder Lendenbraten kann man das Rind nicht wieder zum Leben erwecken, und doch ist das Vertilgen des Herzens auf eigentümliche Weise noch unwiderruflicher. Insofern hat der Akt des Verzehrs etwas leicht Forciertes – und empfindliche Gemüter könnten gar Schuld empfinden.

Natürlich können wir uns damit trösten, dass wir das Rinderherz und damit das Rind insgesamt beim Essen wieder in den Zyklus des Lebens überführen. Und doch: Seit wir erstmals selbst ein Rinderherz gekauft, zerlegt, verkocht, verspeist und verdaut haben, hat sich unser Blick auf die Kühe verändert, die auf unseren Wiesen vor sich hin kauen und uns mit ihren schwarzen Augen nachblicken: Fast sehen wir in ihrem Innersten das Herz, und es scheint uns wie ein Wunder, dass ein derart feiner Muskel ein so mächtiges Tier auf den Beinen hält.


Samuel Herzog

Dieser Text erschien erstmals am Sonntag, 15. Juni 2014 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 55.