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Schon spüre ich, wie sich mein Herz mit meinen leicht angefrorenen Zehen verbrüdern will, da tritt mir ein eigentümliches Geschöpf in den Weg.

Mundstück von Samuel Herzog*

 

Der Fischteich glitzert matt unter der Berührung einer Sonne, die der Welt an diesem Wintertag nichts beweisen will. Kraftlos sitzt das Gestirn im Himmel, ein Urinfleck auf milchgrauem Laken. Der Schnee hat den kleineren Pflanzen die Gesichter weggewischt, die Bäume ausgedörrt. Die Fische, deren Leiber im Sommer durchs Wasser tanzen, müssen erstarrt sein in ihren finsteren Höhlen, die Augen weit aufgerissen. Ein Rabe krächzt trocken durch die Luft, ein Schrei ohne Echo.

Im Februar gibt es selbst in einem botanischen Garten nichts, was dem Auge schmeicheln, was die Nase bezirzen würde – alles ist Herausforderung für die Seele, und die Spuren meiner Füsse im Schnee schreiben Schritt für Schritt das Lied meiner Vergänglichkeit nieder.

Schon spüre ich, wie sich mein Herz mit meinen leicht angefrorenen Zehen verbrüdern will, da tritt mir ein eigentümliches Geschöpf in den Weg. Ein meterhoher Kerl, die Schulter gebeugt vom Gewicht des Schnees. Das Haupt hängt schief, eine Rose aus steifen Blättern, Kopf und Kragen zugleich. Das Rückgrat ein knorriger Stab, an dem zahllose Knospen sitzen, dann und wann von etwas Laub umwachsen. Mitten in der Kältesteifheit dieses Gartens streckt mir ein Rosenkohl seine Triebe entgegen – als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass er mir Nahrung biete, Gastfreundschaft.

Ich blicke mich um, natürlich ist kein Mensch zu sehen, und drehe eine Knospe vom Stamm. Schnell sind die äusseren Blätter abgezwackt, und schon zerbricht der kleine Knirps mit einem lauten Knacken unter dem Druck meiner Zähne. Im Grunde müsste das Röschen doch gefroren sein, denke ich, aber es ist bloss etwas kühl – kann es sein, dass es Mittel kennt, sich den Frost vom Leibe zu halten? In meinem Mund macht sich ein fruchtiges, von Baumnuss-Noten umspieltes Kohlaroma breit, das in diesem vergletscherten Garten warm wirkt, exotisch geradezu – süss auch und nur ganz leicht bitter. Mit dem Aroma des kleinen Kohls breitet sich ein Gefühl unverschämten Glücks in meinem Körper aus, vom Mund geht es in den Bauch und steigt wieder auf zu den Schultern, die sich hochziehen vor Freude, als fahre mir ein frischer Wind in die imaginären Flügel. Es kommt mir vor, wie wenn das Leben selbst die Hand mir aufs Herz lege: Fürchte dich nicht, du kannst mir vertrauen. Und also ist mir in diesem Moment, als würde ich jetzt gerade aus der Angst heraus in die Zuversicht hineingeboren, aus der Unsicherheit in eine unbeirrte Munterkeit.

Eine Stelle aus einem Brief kommt mir in den Sinn, den Wilhelm Busch am 15. Januar 1900 an Grete Meyer schrieb: «Wir haben Frost und Schnee. Es blitzt und blänkert nur so. Nachts beim freundlichen Lichte des Mondes fressen die Hasen den Rosenkohl. Uns war er nicht gut genug.» Mir kommen diese Wintertage manchmal wie seltsam helle Nächte vor, in denen die Sonne zum Mond mutiert, in denen durcheinandergerät, was scheint und was beschienen wird. Vielleicht braucht es solche Tage, die wie Nächte sind, damit uns in einem erfrorenen Garten etwas wie Rosenkohl zum Lebenswert werden kann, der in der lottrigen Hütte unseres Weltvertrauens eine feste Schraube setzt.

 


Dieser Text erschien erstmals am Samstag, 08.03.2015 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 61.