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Warum die Weihnachtstafel die ideale Tischgemeinschaft ist. Und die Ausnahme, welthistorisch gesehen.
von Daniel Di Falco
Engel

Wann, wenn nicht an Weihnachten? Weihnachten ist immer auch eine Beschwörung: die Mahlzeit als Tischgemeinschaft, das Essen als Familienmassnahme. Wo das Essen im Alltag seine soziale Verbindlichkeit verloren hat ‒ einmal im Jahr soll sie zurückkehren. Und eigentlich ist ja immer ein bisschen Weihnachten bei Elisabeth Fülscher. Ihr Kochbuch ist mehr als ein Kochbuch, es hat auch den «schönen und wichtigen Auftrag, beizutragen zur Gestaltung einer gesunden und frohen Familie», wie es im Vorwort zur achten Auflage von 1966 heisst, «zur Pflege einladender Gastlichkeit». Tatsächlich sind die Rezepte durchwegs für sechs Personen ausgelegt, was bei den heutigen Miniaturhaushalten allein schon nach einer Einladung aussieht. Und dann diese Üppigkeit! Die Farbfotos im Buch heissen altmodischerweise Tafeln, aber sie zeigen auch welche: eine festlich überladene, mitunter überbordende Fülle von Platten und Schüsseln, Formen und Farben.

Aber man darf sich nicht täuschen. Die Fülle hat auch pragmatische Gründe: Farbbilder in Büchern waren damals so kostspielig, dass möglichst viele Rezepte in einer einzelnen Szene Platz finden mussten. Und die Sehnsucht nach der familiären Gemeinschaft am Tisch, die hier so «schön und wichtig» erscheint, wie eine Botschaft aus einer vertrauten, aber verlorenen Welt ‒ so selbstverständlich war diese Gemeinschaft eigentlich nie. Die bürgerliche Ära hat das Familienessen zwar zum Ideal erhoben. Aber es war, welthistorisch gesehen, eher die Ausnahme als die Regel.

In den Epen von Homer zum Beispiel wird ja gern und ausgiebig getafelt. Und während der verschollen geglaubte Odysseus durch seine sagenhafte antike Welt irrt, treffen sich die Männer, die um seine Frau Penelope werben, jeden Tag in seinem Haus zum Gelage. Sie schlagen sich den Bauch mit seinen Rindern und Schweinen voll, sie leeren seinen Weinkeller, und sie laden laufend Gäste ein. Doch während auch Telemachos mit ihnen sitzt und tafelt, also der Sohn des Odysseus, nimmt seine Mutter Penelope nicht den kleinsten Bissen zu sich. Und das liegt nicht an der Trauer um ihren Mann. Sondern an der Ordnung der Geschlechter. Homer berichtet auch, wie Telemachos an ein Hochzeitsfest nach Sparta reist. Und an der Festtafel sitzen Männer ‒ keine Spur von der Braut.

«Ob im klassischen Griechenland oder im kaiserlichen China, in Indien, Japan, Neuguinea, in arabischen Ländern oder Afrika: Zum Essen sonderten sich die Männer ab», schreiben Gert von Paczensky und Anna Dünnebier in ihrer «Kulturgeschichte des Essens und Trinkens». Die Frauen ‒ das waren die, die das Essen brachten. Die nachher oder woanders assen. Zusammen mit den Kindern, in der Küche beispielsweise.

Und so fern, wie es scheinen mag, ist das alles nicht. Englands feine Herren begeben sich noch immer gern in ihre Klubs, um unter sich zu speisen, und zu dieser Art Gemeinschaft sind weder Frau noch Kinder zugelassen. Da klingt sie noch nach, die alte Macht, die darin besteht, über die Tafel zu bestimmen. An ihren Höfen assen Karl der Grosse oder Ludwig XIV. zuerst allein; die Adligen, die Halbadligen, die Beamten, die Wachen, die Diener und die Diener der Diener sahen ihnen zu und warteten darauf, dass sie selbst in absteigender sozialer Rangordnung zum Essen kamen. So bestimmt die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe eben auch die Zulassung zu einer Tischgesellschaft. Das Essen bekräftigt dann beides.

Und der Weihnachtstisch? Da sollen, jedenfalls dem Ideal gemäss, die weltlichen Fragen von Macht und Konkurrenz für einmal keine Rolle spielen. Ein historisches Vorbild dafür lässt sich finden, auch wenn es der Ausnahmefall unter allen Tischgemeinschaften ist: die sagenhafte Tafelrunde, an der sämtliche Ritter ebenbürtig nebeneinander sassen. Ob es nun 1500 waren, 366, 240 oder doch nur 12, je nach Variante der Legende: eine ordentlich grosse Tafel. Und König Artus habe, heisst es, diesen runden Tisch erfunden, um dem ewigen Zank um den besten Platz ein Ende zu machen. Gleichheit, Harmonie, Gemeinschaftsgeist: Da kommt eine besondere Runde zusammen, um ein besonderes Mahl zu teilen. Eben: Wann, wenn nicht an Weihnachten