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Mundstück von Samuel Herzog

Meine Tante Masel, die eigentlich Selma hiess, kannte viele Geschichten – eine war die vom traurigen Ende des Planeten Zepa.* Dieser Himmelskörper von der Grösse einer Faust kreiste vor langer Zeit als Mond um die Erde. Eine Art Schleier schützte das Gestirn vor den Strahlen der Sonne und machte eine Atmosphäre möglich, in der sich Lebewesen gut entwickeln konnten. Diese Zepaner, wie Masel sie nannte, waren hochintelligent und ernährten sich von Pflanzen und kleineren Tieren. Eines Tages entdeckten sie das Feuer und alsbald die Möglichkeit, mit dessen Hilfe ihre Nahrungsmittel nicht nur bekömmlicher, sondern auch schmackhafter zu machen. Die Lust am Kochen breitete sich wie ein Virus auf dem Planeten aus, und sämtliche Zepaner hatten bald nur noch die fortwährende Verfeinerung ihrer Gaumenkunst im Sinn. Das ständige Braten und Sieden, Frittieren und Schmoren allerdings erhitzte die Atmosphäre so sehr, dass der schützende Schleier eines Tages zerbarst und die Strahlen der Sonne den Planeten erreichten. Die Welt der Zepaner schmolz innert kürzester Zeit zu einer weissen wächsernen Kugel ein. Kurz darauf wurde Zepa aus der Laufbahn geschleudert, donnerte auf die Erde nieder und grub sich dort in den Boden ein.

Im Schutz der Dunkelheit kehrte das Leben in den Planeten zurück, bald trieb er einen Spross aus, dann eine Blüte – und es dauerte nicht lange, bis überall auf der Welt die Abkömmlinge von Zepa aus dem Boden schossen. Die Erdbewohner lernten schnell, diese Pfanzen für ihre Ernährung zu nutzen, und gaben ihr viele schöne Namen. An dieser Stelle ihrer Geschichte machte Tante Masel jeweils eine bedeutungsvolle Pause und holte dann zum Beweis aus, wie viele dieser schönen Namen sie aufzuzählen wusste: Zwiebel, Oignon, Cipolla, Lök, Sipuli, Kremmydi, Laukur, Tsibele. Masel kannte sogar das chinesische Wort für Zwiebel und forderte ihre Zuhörer auf, es ihr andachtsvoll nach- zusprechen: «Cōng, Cōng – was wäre eine Welt ohne Cōng! Unvorstellbar!»

«Eines aber dürfen wir nie vergessen », unterbrach Tante Masel dann auf einmal die feierliche Stimmung und wurde ganz ernst: «Wenn wir die Zwiebel schälen, dann treibt sie uns das Wasser ja nicht einfach so ins Gesicht. Sie erinnert uns damit an das, was sie war. Ein jedes Mal, wenn wir mit Zwiebeln kochen, beweinen wir also den Untergang des Planeten Zepa und den Verlust der zepanischen Kochkunst.»

Eigentlich ist es doch erstaunlich, dass die Welt auf Tante Masel warten musste, um einen Ursprungsmythos der Zwiebel zu bekommen. Denn das Gewürz nimmt seit mindestens 5000 Jahren eine zentrale Stellung in den Küchen ein. Schon die Kochrezepte aus Mesopotamien kom- men fast nie ohne Zwiebeln aus, und in Ägypten waren sie so wichtig, dass man sie Pharao Tutanchamun mit ins Grab gegeben hat. Auch die Römer liebten sie und sorgten für ihre Verbreitung nördlich der Alpen, wo sie den Germanen gar als Zauberp anzen galten.

Der Erfolg der Zwiebel erklärt sich nicht nur aus dem Umstand, dass sie sich in fast jedem Klima kultivieren lässt und auch keine hohen Anforderungen an den Boden stellt. Zwiebeln sind die beste Basis für Saucen oder Ragouts, sie haben einen markanten Eigengeschmack und funktionieren zugleich als Aromaträger – manchmal gar im wörtlichen Sinn, wenn sie, etwa mit Lorbeer und Nelken gespickt, stundenlang in Brühen ausgelaugt werden. Roh hat die Zwiebel eine gewisse Schärfe und einen hellen, schwefeligen, leicht säuerlichen Geschmack. Die Schärfe verliert sie schon, wenn man sie mit etwas Salz bestreut. Ihr wahres Aroma aber entwickelt Allium cepa erst, wenn man sie bei sanfter Hitze ganz langsam schmelzen lässt. Müsste ich einen Duft auswählen, der die Kunst der Verwandlung am Herd symbolisiert, dann würde ich die liebevolle Süsse und die leichten Röstaromen von frisch in Butter glasierten Zwiebeln nennen – und wenn ich dann ihren vollen, fleischigen Geschmack im Mund habe, dann bin ich geneigt zu glauben, dass darin die Kochkraft eines ganzen Planeten eingeschmolzen ist.

Mundstück Nr. 62 ist Teil der Sammlung von 33 Mundstücken, die 2017 im Zürcher Rotpunktverlag erschienen ist. Das Buch (163 S., 33 Abbildungen, Fr. 18.-) kann im Raum Acht gekauft oder per Mail bestellt werden (+ 3.- Verpackung und Versand, gegen Rechnung).