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Wenn da, was ja selten genug vorkommt, einmal eine Kuttel in der Auslage einer Metzgerei liegt, dann sollte man sich bewusstmachen, dass auf dieses elfenbeinfarbene Stück deutlich mehr menschliche Mühe verwendet wurde als auf das zehn Mal teurere Steak nebenan.

                             Mundstücke von Samuel Herzog
                                                (Bild: Elsa Mudame)

Mit den Grimassen, die manche Zeitgenossen nur schon bei Nennung des Wortes ganz unwillkürlich schneiden, könnte man die Physiognomik um einen weiteren Typus ergänzen: das Kuttel-Gesicht. – Die meisten Kaldaunen, die heute in unserer westlichen Welt noch in den Verkauf gelangen, werden aus dem Rind oder Kalb, seltener dem Lamm geschnitten – nur Wiederkäuer verfügen über den fünfteiligen Magen, den man heute gemeinhin als Kuttel bezeichnet.

Noch bis vor wenigen Jahrzehnten waren Kutteln allseits beliebt – und wurden überall in Spezialgeschäften angeboten. Heute sind diese Läden fast völlig aus dem Bild unserer Städte verschwunden. Wie aber konnte die Kuttel in so kurzer Zeit von einer beliebten Delikatesse zur Inkarnation aller kulinarischen Phobien werden? Man würde es ja verstehen, wenn die Kutteln in ungereinigtem Zustand verkauft würden, wie man sie zum Beispiel auf den Märkten ärmerer Länder in Asien antrifft – für die küchentechnische Bewältigung dieser schwarzen Lappen fehlt uns heute nicht nur die Zeit, sondern mit einigem Recht auch die Lust.

Kein Metzger hierzulande wird jedoch seinen Kunden eine Kuttel verkaufen, die nicht ausgiebig gereinigt, gesäubert und vorgekocht, kurz beinahe tafelfertig gemacht wurde. Wenn da, was ja selten genug vorkommt, einmal eine Kuttel in der Auslage einer Metzgerei liegt, dann sollte man sich bewusstmachen, dass auf dieses elfenbeinfarbene Stück deutlich mehr menschliche Mühe verwendet wurde als auf das zehn Mal teurere Steak nebenan. Die Kuttel, wie wir sie kaufen können, ist ein höchst kultiviertes Produkt – vergleichbar einer Wurst.

Nur: Warum ist die Wurst ein so breit akzeptiertes Nahrungsmittel – die Kuttel aber nicht? Deon Godet meint, der Magen einer Kuh sei «gross wie ein Schlafsack, wir hätten leicht darin Platz» – und doch fresse die Kuh nur Gras. In der Abneigung gegen die Kuttel manifestiere sich also «die untilgbare Schuld des Homo edens, der das harmlose Tier ohne Not ermordet hat».

Man mag Godet zustimmen – allerdings war diese Schuld wohl kaum geringer in Zeiten, da die Welt noch Kutteln ass. Aber vielleicht ist ja gerade die lange Verarbeitungszeit verantwortlich für das Unbehagen, das die Flecke provozieren. Im Unterschied zur Wurst sind sie nämlich auch in küchenfertigem Zustand noch als der Magen des Tieres erkennbar – gleichzeitig ahnt man, dass dem Teil durch den langen Prozess etwas ausgetrieben werden musste, das eklig, vielleicht gar bedrohlich war. So wird der für den Konsumenten nie sichtbare Vorgang des Essbarmachens dieses Organs zu einem schwarzen Loch, in dem unheimliche Transformationsprozesse stattgefunden haben müssen – zu einer Art Kino auch, auf dessen blutbeschmierte Leinwand die Phantasie alle möglichen Bilder projizieren kann.

Damit ruft uns die Kuttel auf besonders plastische Weise in Erinnerung, dass Fleisch nicht auf Bäumen wächst – und es Momente der Grausamkeit gibt, die mit seiner Genese als Nahrungsmittel untrennbar verbunden sind. Die Fleischproduktion mit all ihren unschönen Seiten ist dem heutigen Menschen fremd geworden, die Kuttel aber stellt so etwas wie einen Hyperlink zum Schlachthaus dar. So wird leichter verständlich, dass man nicht mit ihr in Berührung kommen möchte.

Manche mögen wohl auch schlicht die gelatinöse Konsistenz nicht und das ganz eigene Aroma, das Kutteln bei fast jeder Zubereitungsart erhalten bleibt – das leicht Süssliche, Intime und auf geheimnisvolle Art Blumige dieser «lieblich-wilden Magen-Orchidee» (Godet). Genau diese Eigenschaften aber machen die Kuttel für andere zu «a most excellent dish» (Samuel Pepys), zur behaglichsten Schleckerei der Welt – und sie feiern sie wie Mary Hunter als «gluttons glutinous glory».



Samuel Herzog

Dieser Text erschien erstmals am Sonntag, 28. Juni 2014 als Teil der Serie «Mundstücke» im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 61.



→ Die Anleitung für das Fülscher Rezept 702  «Tripes à la mode de Caen»